DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Virtuelle Gemeinschaften als Lerngemeinschaften!?

Zwischen Utopie und Dystopie

Nicola Döring

Dr. Nicola Döring, Dipl.-Psych., arbeitet als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der TU Ilmenau.

Wie funktionieren virtuelle Gemeinschaften? Wie gestalten sich Kommunikationsprozesse? Was bringen virtuelle Lerngemeinschaften im Rahmen und außerhalb formaler Bildungsmaßnahmen? - Nicola Döring untersucht, inwieweit virtuelle Gruppen ein Zusammenschluss souveräner Individuen sind, die sachlich kooperieren und sich emotionalen Rückhalt geben, oder - wie von Kritikern behauptet - antisoziale Pseudogemeinschaften. Im Anschluss werden Formen von Online-Lerngemeinschaften charakterisiert und bewertet.

Abstract:
Online communities have been praised as utopian realms of free, equal and unrestricted communication by some; others have condemned them as anti-social pseudo-communities. Both attitudes, however, focus on the technical framework and do not take the actual quality of the interaction into account. The author describes types of interaction in virtual communities in general, then looks at four types of communities dedicated specifically to learning, and explores their potential.

Der Begriff virtuelle Gemeinschaft wurde von Howard Rheingold (1993) geprägt. Mittlerweile spricht man synonym auch von Online-, Cyber-, Netz- oder E-Gemeinschaften bzw. Online-, Cyber-, Net- oder E-Communities. Rheingolds Sicht des virtuellen Gemeinschaftslebens war durch seine eigenen positiven Erfahrungen im Mailboxsystem The WELL (Whole World `Lectronic Link: www.well.com) geprägt. Wie viele andere Netzpioniere, die in den 80er und frühen 90er Jahren des 20. Jahrhunderts Computernetzwerke mit technischer Begeisterung und politischem Idealismus erkundeten, konstruierte er das Netz als eine utopische Gegenwelt: Im Kontrast zu tradierten lokalen Gemeinschaften mit ihren Negativerscheinungen wie dörfliche Enge, Anwesenheitspflicht, Uniformitätszwang und Autoritätshörigkeit seien überlokale virtuelle Gemeinschaften demokratische und egalitäre Zusammenschlüsse souveräner Individuen, die auf sachlicher Ebene effektiv kooperieren und sich gleichzeitig auf emotionaler Ebene Rückhalt und Geborgenheit geben.

Im Gegensatz zu den enthusiastischen Netzpionieren hielten Kulturkritiker virtuelle Gemeinschaften von Anfang an für antisoziale Pseudogemeinschaften: Wer sich isoliert am eigenen Rechner sitzend in Online-Foren einloggt, flüchte aus der realen Welt, entziehe sich sozialer und politischer Verantwortung und beschränke sich auf problemlos konsumierbare, defizitäre Telekontakte, die letztlich zur menschlichen Verarmung führten. „Die Cybergemeinschaft verhält sich zur realen Gemeinschaft wie die Gummipuppe zur lebendigen Frau" (Lockard 1997, S. 225).

Sowohl utopische als auch dystopische Interpretationen virtueller Vergemeinschaftung sind jedoch als technikdeterministisch abzulehnen. Beide Sichtweisen blenden aus, dass und wie Individuen und Gruppen sich das Medium aktiv und eigensinnig aneignen können (und müssen), was in Abhängigkeit von diversen Kontextfaktoren (z. B. Merkmale der technischen Plattform, des Teilnehmerkreises und der verfolgten Ziele) unterschiedliche Positiv- und Negativfolgen nach sich ziehen kann (z. B. hinsichtlich Kommunikationskultur, Aufgabenbewältigung und Beziehungsentwicklung).

Welche Bestimmungsstücke in eine deskriptive Definition virtueller Gemeinschaft aufzunehmen sind, ist im Detail strittig, da verbindliche Theorien zur Gemeinschaft ebenso fehlen wie zur Virtualität. Einigkeit besteht jedoch dahingehend, dass durchaus von „echter" Gemeinschaft gesprochen werden kann, auch wenn kein Face-to-Face-Kontakt stattfindet. Gemeinschaften, die nicht an lokales Zusammenleben gebunden sind, gab es nämlich schon vor dem Internet: Religionsgemeinschaften, Fangemeinschaften und nicht zuletzt die Scientific Communities sind prominente Beispiele. Stützt man sich auf einschlägige Beiträge der empirischen Netzforschung, so lässt sich folgende Arbeitsdefinition formulieren (vgl. Döring 1999; Jones 1997; Smith/Kollock 1999):

Eine virtuelle Gemeinschaft ist ein Zusammenschluss von Menschen mit gemeinsamen Interessen, die untereinander mit gewisser Regelmäßigkeit und Verbindlichkeit auf computervermitteltem Wege Informationen austauschen und Kontakte knüpfen.

Die Funktionsweise virtueller Gemeinschaften

Damit sich im Netz eine Gemeinschaft konstituieren kann, wird ein gemeinsamer virtueller Treffpunkt benötigt, also eine technische Plattform, auf die alle Beteiligten zugreifen können. Dies kann ein Online-Forum sein, in dem Botschaften zeitversetzt (z. B. Mailingliste, Usenet Newsgroup, Newsboard) oder aber zeitgleich (z. B. Multi User Domain, Internet Relay Chat-Channel, Webchat) ausgetauscht werden. Asynchrone Foren eignen sich besser für einen themenbezogenen (on-topic) Austausch, weil man die Beiträge in Ruhe ausarbeiten und lesen kann (z. B. Usenet Newsgroup <de.soc.umwelt>). Synchrone Foren sind dagegen durch die Unmittelbarkeit der gleichzeitigen Online-Aktivität und die Kürze der Botschaften dafür prädestiniert, unfokussiertes unterhaltsames Beisammensein zu ermöglichen (off-topic; z. B. IRC-Channel #flirt.de). Kostenlos einrichten lassen kann man sich eigene Mailinglisten beispielsweise bei Yahoo: groups.yahoo.com), Newsboards bei Parsimony (www.parsimony.net) und Chatrooms bei Webmaster als Backback-Lösung (www.webmaster.com). Viele Online-Communities nutzen heute parallel asynchrone und synchrone Online-Foren, die auf einer Community-Website zusammengeführt und noch um Informations- und Transaktions-Angebote ergänzt werden. Ein Beispiel dafür ist die Website der Startrampe (www. startrampe.net), einer Online-Gemeinschaft von Rollstuhlfahrern und Querschnittgelähmten. Für ein so komplexes Angebot muss eine professionelle Community-Software eingesetzt werden, wie sie etwa von Cassiopeia (www.cassiopeia.de) oder Webfair (www.webfair.de) angeboten wird.

Von den heute vorfindbaren virtuellen Gemeinschaften ist ein Teil über die Jahre hinweg sozusagen organisch gewachsen durch das ehrenamtliche Engagement einzelner Mitglieder. Daneben werden jedoch immer mehr Online-Communities unter kommerziellen Gesichtspunkten gezielt aufgebaut, man spricht dann auch vom Community Building (vgl. Brunold/Merz/Wagner 2000). In beiden Konstellationen gilt, dass mit der Bereitstellung einer technischen Plattform allein noch keine soziale Community besteht. Es muss sich nämlich ein fester Mitgliederkreis etablieren, der regelmäßig in den Foren kommuniziert. Erfahrungsgemäß werden lediglich 10% der Besucher eines Online-Forums aktiv, der Rest liest nur schweigend mit. Neben der Mitglieder-Anwerbung ist die Community-Organisation eine weitere zeit- und personalintensive Aufgabe: Verhaltensregeln müssen definiert und mit gezielten Sanktionen durchgesetzt werden, Vertrauen und Zusammenhalt müssen durch Online- und Offline-Aktivitäten gestärkt, Aufgabenbearbeitung und Zielerreichung müssen durch Planung und Arbeitsteilung sichergestellt werden. Gerade große Communities mit heterogenem Teilnehmerkreis sind weit davon entfernt, sich einfach problemlos und egalitär im Sinne des Gemeinwohls selbst zu organisieren, wie Netzutopien behaupten. Stattdessen kommt es wie im sonstigen Leben zu einer Binnenstrukturierung mit hierarchisierten Rollen und sanktionsbasierter Verhaltenskontrolle, was Machtmissbrauch einschließt (vgl. Döring 2001).

Die Stammmitglieder virtueller Gemeinschaften sind keinesfalls anonym, sondern einander in der Regel namentlich, mit Foto, Beruf und sonstigen Lebensumständen bekannt, oftmals finden auch Treffen „in real life" statt. Steoretypisierung und Diskriminierung anhand sozialer Kategorien wie Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung oder Beruf sind bei computervermittelter Kommunikation in Online-Communities deshalb nicht generell ausgeschlossen. Vielmehr hängt es von der Zusammensetzung des Teilnehmerkreises und von der etablierten Kommunikationskultur ab, ob etwa die Beiträge von Frauen als solche diskreditiert werden oder nicht (vgl. Döring 2000).

Online-Communities erleben momentan einen Boom. Virtuelle Gemeinschaften für diverse Gruppen und Themen existieren, doch systematische Querschnitt- und Längsschnitt-Studien fehlen. So wissen wir beispielsweise nicht, ob und unter welchen Bedingungen virtuelle 3D-Welten (z. B. www.active worlds.com) den nach wie vor dominierenden reinen Text-Chats als Community-Plattformen überlegen sind. Wünschenswert wäre also eine Kategorisierung und Katalogisierung von Online-Communities anhand ihrer zentralen technischen und sozialen Merkmale.

Virtuelle Lerngemeinschaften

Unter virtuellen Lerngemeinschaften sollen hier virtuelle Gemeinschaften verstanden werden, in denen der Erwerb von Wissen oder Fertigkeiten für die Beteiligten explizit im Vordergrund steht. In vier Kontexten ist oft von Online-Lerngemeinschaften die Rede:

Öffentliche Wissensbörsen
Im Internet steht eine Reihe öffentlicher Wissensbörsen zur Verfügung. Hier kann man sich unter Nennung der je individuellen Expertise anmelden und im Gegenzug kostenlos auf das Fachwissen anderer zugreifen. Bislang sind in entsprechenden Portalen (z. B. www.wer-weiss-was.de) Computerthemen besonders stark vertreten. Als Mitglied einer Wissensbörse wird man angeregt, Wissen zu aktivieren und den eigenen Expertisebereich auszubauen.

Berufsbezogene und fachliche Foren
Networking ist gerade in hochqualifizierten und selbstständigen Berufen ein wichtiger Erfolgsfaktor und wird zunehmend auch ins Internet verlagert. Ein Komplett-Angebot von Mailinglisten, Newsletter, Face-to-Face-Veranstaltungen und Website mit öffentlichem und passwortgeschütztem Bereich bietet die Webgrrls-Community (www.webgrrls.de) weiblichen Fach- und Führungskräften im Bereich neue Medien. Diese seit 1997 bestehende Peer-to-Peer-Community stellt Weiterbildung „on demand" zur Verfügung nach dem Prinzip „first give, then take". Ähnlich funktionieren zahlreiche wissenschaftliche und fachliche Online-Foren, wie etwa das Psychotherapieforum (www.psychotherapie.org), an dessen Webseiten und Mailinglisten rund 1.000 ärztliche und psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten beteiligt sind.

Unternehmensinternes Wissensmanagement
Um den Wissensaustausch ihrer Mitarbeiter und die gemeinsame Projektabwicklung zu fördern, richten Unternehmen in ihren Intranets zunehmend Wissens- und Lern-Plattformen ein. Man hofft, auf diese Weise einen effizienteren Austausch anzuregen, als er etwa allein durch Meetings möglich ist.

Kursbezogene Foren
Im Fern- und Präsenzunterricht wird Seminargruppen immer häufiger ein Online-Forum für den internen Austausch angeboten. Unterstützt durch E-Moderation (vgl. Berge/Collins 2000; Salmon 2000) und manchmal auch durch spezielle reflexionsfördernde Software (z. B. CSILE: Computer Supported Intentional Learning Environment: csile.oise.utoronto.ca) soll eine gemeinschaftliche Auseinandersetzung mit den Inhalten gefördert werden. Oftmals erweist es sich jedoch als sehr schwierig, die Teilnehmer zu regelmäßiger Online-Diskussion zu motivieren, so dass typischerweise 50% der Beiträge von der Lehrkraft selbst geliefert werden.

Es ist eine weitgehend offene empirische Frage, ob die vorgenannten nominell wissens- oder lernbezogenen Online-Foren tatsächlich Treffpunkte von Lerngemeinschaften sind: Man müsste dazu nämlich für jedes Forum separat prüfen, wie stark interne Kommunikation und kollektive Identifikation ausgeprägt sind und ob ein nennenswerter Lernnutzen vorliegt. Allzu oft wird vorschnell von „Lerngemeinschaften" gesprochen, wo in Wirklichkeit nur ein Online-Forum existiert, über dessen Nutzung und Nutzen man kaum etwas weiß.

Im Rahmen von formalen Bildungsmaßnahmen außerhalb des Unternehmens ist es in der Regel nicht möglich, neue Lerngemeinschaften zu bilden. Es fehlt häufig an Zeit, Geld und Motivation für ein so anspruchsvolles Unterfangen. Stattdessen sollte man lieber auf bestehende öffentliche Wissensbörsen, berufsbezogene und fachliche Online-Foren zurückgreifen und das dortige individuelle Engagement im jeweiligen Seminar gemeinsam reflektieren. Dies würde die Kursteilnehmer auf eine selbstständige und nachhaltige Weiterqualifikation im Netz besser vorbereiten als der so oft beobachtete krampfhafte Versuch, für die Dauer eines Seminars einen isolierten Online-Diskurs anzukurbeln. Im professionellen Community-Building veranschlagt man eine Vorlaufzeit von mehreren Monaten bis Jahren und ein Budget im fünf- bis siebenstelligen Bereich, um eine Community einzurichten.

Literatur

Berge, Zane L./Collins, Maurie P. (2000): Perceptions of e-moderators about their roles and functions in moderating electronic mailing lists. In: Distance Education: An International Journal, H. 1, S. 81-100. http://www.emoderators.com/moderators/modsur97.html

Brunold, Joachim/Merz, Helmut/Wagner, Johannes (2000): www.cyber-communities.de. Virtual Communities: Strategie, Umsetzung, Erfolgsfaktoren. Landsberg/Lech. http://www.cyberconcepts.de/communities/

Döring, Nicola (1999): Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Göttingen http://www.nicoladoering.net/Hogrefe/

Döring, Nicola (2000): Geschlechterkonstruktionen und Netzkommunikation. In: Thimm, Caja (Hrsg.): Soziales im Netz. Sprache, Beziehungen und Kommunikationskulturen im Netz. Opladen, S. 182-207

Döring, Nicola (2001): Belohnungen und Bestrafungen im Netz: Verhaltenskontrolle in Chat-Foren. In: Gruppendynamik und Organisationsberatung - Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, H. 2 (Schwerpunkt: Virtuelle Kommunikation).

Jones, Quentin (1997): Virtual Communities, Virtual Settlements & Cyber-Archaeology: A Theoretical Outline. In: Journal of Computer-Mediated Communication, H. 3 [Online-Dokument] URL, http://www.ascusc.org/jcmc/vol3/issue3/jones.html

Lockard, Joseph (1997): Progressive Politics, Electronic Individualism and the Myth of Virtual Community. In: Porter, David (Hrsg.): Internet Culture. New York, NY, S. 219-232

Rheingold, Howard (1993): The Virtual Community: Homesteading on the Electronic Frontier. New York, NY, http://www.rheingold.com/vc/book/1.html

Salmon, Gilly (2000): E-Moderating. The Key to Teaching and Learning Online. London, http://oubs.open.ac.uk/e-moderating/

Smith, Marc A./Kollock, Peter (Hrsg.) (1999): Communities in Cyberspace. New York, NY


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Juli 2001

Nicola Döring, Virtuelle Gemeinschaften als Lerngemeinschaften!?. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/32001/positionen4.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp