Ekkehard Nuissl von Rein die_logo1a.gif (1181 Byte) 1998


(Weiter-)Bildungspolitik im nächsten Jahrhundert

Die Bildungspolitik des nächsten Jahrhunderts wird eine andere sein. Gegenwärtig zeichnet sich ab, daß das bildungspolitische Koordinatenkreuz, bestehend aus staatlichen Institutionen, Akkreditierungssystemen und Selektionsmechanismen, verschoben wird. Der Akteur dieses Vorgangs ist schwer auszumachen; der Staat reduziert seine Gestaltungsaktivitäten, steuert gezielt, reagiert aber auch nur. Die betonte Rolle der Individuen und ihrer Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung korrespondiert mit einem sich verändernden Engagement des Staates, aber auch viel grundsätzlicher mit einer sich auflösenden Linie zwischen dem, was als öffentlich deklariert, und dem, was als privat behauptet und verteidigt wird. Die Frage ist, was diese generelle Entwicklung für die Weiterbildungspolitik der näheren Zukunft bedeutet. Dabei ist bereits der Begriff Politik wichtig. Kann Politik die sich abzeichnenden Trends beeinflussen, verändern, verhindern? Will sie das überhaupt? Gibt es Potentiale der Gegensteuerung?

1. Gesellschaftliche "Megatrends"

Für politisches und hier im engen Sinne als staatliches Handeln verstandenes Vorgehen ist – ebenso wie in der Unternehmenspolitik – die Analyse des Wandels im Umfeld erforderlich. Öffentlichkeit und Staat können dabei nur begrenzt Einfluß nehmen auf die Entwicklungen, welche einer dem "Privaten" zugeordneten ökonomischen Dynamik verpflichtet sind. Als verhältnismäßig unstrittig gelten folgende gesellschaftliche Megatrends:

Unter Abwägen der Bedeutsamkeit und der anzunehmenden Nachhaltigkeit sind dies die "Megatrends", welche die Welt von morgen vorbereiten und gestalten (vgl. Bell 1997). Sicher ließen sich noch andere Prozesse benennen – etwa Umweltproblematik, Geschlechterbeziehung, Arbeitslosigkeit –, sie lassen sich jedoch auch als konkrete Realisierungen dieser Megatrends definieren.

Eine wichtige Frage ist, wie die Megatrends einzuschätzen sind. Vielfach gehen in den Diskussionen die (nicht immer genauen und empirisch belegten) Trendaussagen einher mit ihrer unmittelbaren Bewertung. Dies richtet zwar – sinnvollerweise – den Blick auf bestehende und entstehende Probleme, erschwert aber die nüchterne Analyse des Wandels. Zudem ersetzen moralische Verve, kulturkritische Redlichkeit oder humanitäre Larmoyanz kein politisches Handeln. Nur dieses wäre und ist in der Lage, den Fortgang der Trends zu beeinflussen und diese in eine andere Richtung zu lenken.

2. Zur Rolle von Bildungspolitik

Nun ist das mit dem politischen Handeln so eine Sache: Mit einigem empirischen Gehalt wird – beispielsweise in der neuesten Shell-Jugendstudie (1997) – darauf hingewiesen, daß Politik insgesamt weiter an Bedeutung verliert. Ökonomisch betrachtet ist dies durchaus rational. Die Dienstleistungsfunktion politischen Handelns für die Nationalökonomien wird bei Megatrends wie Globalisierung, Vermarktlichung und Mediatisierung weniger wichtig. "Außenpolitik" beispielsweise wird im Zeitalter interkontinentaler Konzerne zu einer Art unternehmensinterner Strategie. Der Bedeutungsverlust der Politik insgesamt spiegelt sich analog auch im Bedeutungsverlust politischer Bildung und in den Schwierigkeiten, angemessene Angebote politischer Bildung zu realisieren.

Natürlich ist dieser generelle Bedeutungsverlust von Politik zu differenzieren. Einige Felder werden wichtiger, andere unwichtiger. Zu den wichtiger werdenden Feldern politischen Handelns zählt die Bildung. Dieser Wert ist in Deutschland noch nicht angekommen. Hier entsteht die Gefahr eines gravierenden Rückstandes gegenüber anderen industrialisierten Ländern. Dies wird sich jedoch in absehbarer Zukunft ändern (müssen). Bildung gehört perspektivisch zu den "größeren" Politikfeldern; auf regionaler (Länder-)Ebene ohnehin, auf nationaler Ebene mehr und mehr (zusammen mit Forschung wird sie dort in absehbarer Zeit etwa "Verteidigung" überrunden) und auf der Ebene übernationaler Zusammenschlüsse – etwa der Europäischen Union – perspektivisch immer systematischer. Dies ist weniger Zweckoptimismus aus der Sicht des Bildungsbereichs, als vielmehr eine Antizipation der Rationalität gesellschaftlicher Entwicklung.

Der Bildungsbereich hat in Zukunft einen immer wesentlicheren Anteil daran, die Menschen dazu zu befähigen, mit den beschriebenen Megatrends umzugehen, sie zu beeinflussen und zu gestalten sowie die Produktivität der Gesamtgesellschaft zu erhalten. Dabei sind drei große Aufgaben zu lösen, die international schon vielfach angesprochen, national noch nicht umgesetzt sind:

Diese Aufgaben fordern den gesamten Bildungsbereich heraus. Dies betrifft nicht nur die Politik, sondern auch die Wissenschaft. Im politischen Bereich dürfte sich eine Tendenz fortsetzen und verstärken, die bereits jetzt beobachtbar ist: der Paradigmenwechsel von der Ressortzuständigkeit zur Aufgabenbezogenheit. Der gerade in der Weiterbildung ohnehin vielfach beklagte Tatbestand, daß staatliches bildungspolitische Handeln zersplittert ist in unterschiedliche Ressorts (was in einigen Ländern zu koordinierenden Stabsstellen führte), wird sich wohl auf Dauer nicht halten können. Wie in anderen Fällen auch, in denen normativ definierte Bereiche zugunsten von aufgabenbezogenen Strukturen verändert wurden, dürfte sich Bildungspolitik zunehmend nicht nur von den Aufgaben her definieren, sondern auch bezogen auf Aufgaben organisieren. Der eigentliche Umwandlungsprozeß der öffentlichen und staatlichen Organisationen, der bisher nur die Peripherie erfaßte (nachgeordnete und zugeordnete Institutionen und Organisationen wie Bahn, Post etc.), könnte in absehbarer Zeit den Kern staatlich-politischen Handelns, die Behörden im engeren Sinne, erreichen. Dies kann, davon ist bereits jetzt auszugehen, zu noch stärkeren Friktionen führen als in den aktuell laufenden Umwandlungsprozessen.

Ein weiterer Akzent dürfte sich verlagern: Nach definierten Aufgaben wird das "Bildungsmanagement" im engeren Sinne bedeutsamer werden. Es tritt an die Stelle der traditionellen "Bildungsverwaltung" und sorgt mittels entwickelter Instrumentarien dafür, daß die definierten Aufgaben zielgerichtet gelöst werden. Die wichtige Rolle des Bildungsmanagements wäre dabei, die Prozesse zu moderieren, auf die Aufgaben hin zu steuern und die Beteiligten vor Nachteilen und Verlusten zu schützen. Die "Übersteuerung" im verwaltenden und die "Untersteuerung" im strategischen Bereich (vgl. Reichard 1993) könnte sich so in Richtung auf ein ausgewogeneres System von Evaluation und Controlling hin entwickeln.

3. Zukünftige Akzente von Weiterbildungspolitik

Aus dem Gesagten – gesellschaftlicher Rahmen und Strukturwandel von Bildungspolitik – ergeben sich die zukünftigen Akzente in der Weiterbildungspolitik. Sie sind heute bereits feststellbar. Wenn man die Analysen und Empfehlungen zur Weiterbildung in den Bundesländern Niedersachsen, Hessen, Schleswig-Holstein, Bremen und Nordrhein-Westfalen aus den letzten Jahren aufmerksam studiert, kann man sowohl die Zunahme der Rolle dieser neuen Akzente feststellen, als auch den jeweiligen Versuch, das Bewährte zu erhalten und das Neue zu ermöglichen. Nicht immer ist dieser Kompromiß überzeugend, vor allem dann nicht, wenn bereits absehbar ist, daß er nur für eine kurze Zeit tragfähig sein dürfte. Die wesentlichen Akzente zukünftiger Weiterbildungspolitik lassen sich in drei Dimensionen skizzieren: strukturelle Akzente, finanzielle Schwerpunkte und inhaltliche Impulse.

a) Strukturelle Akzente

Erkennbar ist der Trend, Weiterbildung eher im Rahmen regionaler Strukturpolitik und einer Politik des gesamten Bildungswesens zu sehen. Kriterien wie "regionale Grundversorgung" treten demgegenüber in den Hintergrund. Das gleiche gilt für das seit Beginn der 70er Jahre geläufige Prinzip der "Subsidiarität"; an seiner Stelle wird bereits heute eher der Begriff des "Supports" genannt, der in Deutschland auf das hessische Gutachten von Faulstich und Teichler (1992) zurückverfolgbar ist. Es ist absehbar, daß sich die strukturellen Akzente künftigen staatlichen Bildungsmanagements auf folgende Punkte konzentrieren:

Insgesamt zielen die strukturellen Akzente zukünftigen staatlichen Bildungsmanagements darauf, Weiterbildung zu ermöglichen, zu unterstützen und transparent zu machen, weniger darauf, sie selbst vorzuhalten oder zu finanzieren. Dabei ist zwischen dem Staat im engeren Sinne und den Kommunen zu unterscheiden, die ihrerseits – je nach kommunalen Interessen und Strukturen – auch andere Akzente zu setzen vermögen.

b) Inhaltliche Impulse

Inhaltlich wird staatliches Bildungsmanagement zukünftig vor allem über Programme gehen, die in der Regel ausgeschrieben werden – ein Strukturelement von Bildungsmanagement in deregulierten Systemen. Diese Programme sind regional begrenzt und zeitlich befristet und unterliegen einer Effizienzkontrolle. Die Felder, in denen solche Programme eingesetzt werden könnten, sind auch mittelfristig die folgenden:

Darüber hinaus dürften solche Programme eine zunehmende Rolle spielen, welche die Innovation im Bildungsbereich vorbringen; sie könnten sich beziehen auf neuartige Formen der Kooperation von Einrichtungen, auf zu entwickelnde methodische Verfahren, auf den Transfer von Angeboten und Dienstleistungen. Von besonderer Bedeutung wird dabei wohl das Entstehen von Netzwerken zwischen Personen, Institutionen und Angeboten (auch international) sein.

c) Finanzielle Schwerpunkte

Die Ausgaben des Staates für die Bildung insgesamt und für die Weiterbildung werden vermutlich in absoluten Größen wieder steigen, wenn auch nur in kleinen Schritten. Sie werden relativ gegenüber anderen Politikfeldern an Bedeutung gewinnen, relativ jedoch zu den Kosten des Bildungswesens dürften sie zunehmend weniger bedeutsam werden. Mit anderen Worten: Der Anteil öffentlicher Mittel im Bereich der (Weiter-)Bildung wird sinken, auch wenn die Mittel steigen.

Verändern dürften sich dabei auch die Verfahren der Mittelvergabe. Die "neuen" Formen der staatlichen Finanzierung und Bezuschussung werden weiter um sich greifen. Statt traditionell kameralistischer Regeln (vor allem Haushalts-Jahresabschlüsse, verminderte Deckungsfähigkeit, Rückerstattung) werden zunehmend marktwirtschaftliche Prinzipien wirksam: Budgetierung und "Deckung" mit voller gegenseitiger Deckungsfähigkeit und eigener Verwendung erzielter Einnahmen. Auch das Dogma des Haushaltsjahres könnte zukünftig überwunden werden, so daß staatliche Mittel in eher marktwirtschaftlicher Weise verwendbar wären. An die Stelle kameralistischer Kontrollmechanismen werden zunehmend Managementinstrumente treten – Controlling, Kontrakte, Evaluation –, und die staatliche Bildungsverwaltung, zum "Bildungsmanagement" umgewandelt, wird vermutlich Sinn und Zweck der Mittelvergabe nach zunehmend unternehmerischen Grundsätzen (Strukturpolitik, Innovation, Förderung von Standorten, Lösung sozialer Probleme) beurteilen.

Für Einrichtungen könnten der Erwerb und die Legitimation staatlicher Mittel immer aufwendiger werden. Dies gilt weniger für Einrichtungen des entstehenden Systems von Supportstrukturen (Beratung, Information etc.), die in der Linie "neuer" staatlicher Bildungspolitik liegen, als vielmehr für Bildungseinrichtungen selbst, die sich in einem immer breiteren Markt von konkurrierenden Wettbewerbern bewegen müssen. Der zunehmende Aufwand für den Erhalt staatlicher Mittel wird gemessen an dem relativ sinkenden Wert ihres Anteils an der Finanzierung. Dies könnte vielfach dazu führen abzuwägen, ob es nicht günstiger ist, ganz auf sie zu verzichten. In diese Abwägung werden Überlegungen einfließen, die weniger mit den Finanzen selbst als vielmehr mit dem marktwerten Vorteil einer öffentlichen Förderung zu tun haben – dies ist heute bereits vielerorts der Fall. Diese werden eingehen in das in allen Institutionen wachsende Bemühen um eigenes Profil, konsistentes Image und wirksame Öffentlichkeitsarbeit.

Ein immer wichtigeres Element staatlicher Finanzierungspolitik dürfte die Förderung individueller Bildungsbemühungen werden. Es ist noch nicht absehbar, ob und welche bereits häufig diskutierten Systeme von Bildungsgutscheinen, Steuerentlastungen usw., die direkt bei den Lernenden ansetzen, zukünftig erprobt und umgesetzt werden. Ganz sicher wird ein wachsender Anteil staatlicher Mittel in die individuelle Bildungsfinanzierung einfließen. Voraussetzung dafür sind praktikable Verfahren der empirischen Erfassung von Bildungsaktivitäten und ihres Nachweises. Es wird kein ausgewogenes System institutioneller und selbstorganisierter Bildung geben, wenn nicht auch die finanzielle Seite die individuellen Bemühungen ausreichend unterstützt.

4. Grenzen der Prognostizierbarkeit

Das hier Gesagte sind Prognosen, die sich ganz allgemein aus der Extrapolation der bestehenden Trends und absehbaren Entwicklungen ergeben. Sie gehen davon aus, daß die bestehenden Tendenzen in der Richtung bleiben. Sie sind insofern plausibel, als die prognostizierten Veränderungen untereinander weitgehend widerspruchsfrei sind. Sie berücksichtigen aber nicht bestehende Widerstandspotentiale, Beharrungsvermögen und politische Einflüsse, die auch im Aushandeln von Kompromissen liegen. Davon wird abhängig sein, in welchen Zeiträumen zu denken ist. Bei der Veränderung der Staatsverwaltung ist beispielsweise eher mit längeren Zeiträumen zu rechnen, während bei den Prognosen für die veränderte materielle Basis von Bildungseinrichtungen bereits heute weitgehende Erfordernisse erkennbar sind, die nur noch nicht überall umgesetzt sind.

Will man die gemachten Prognosen bewerten, so wird man feststellen, daß viele humanitären, sozialen und gesamtgesellschaftlichen Grundpositionen nicht automatisch Bestand haben. Sie sind unter veränderten Bedingungen neu zu definieren und zu erkämpfen. Es wird darauf ankommen, in einem sich verändernden System von bildungspolitischem Input, pädagogischer Realität sowie individuellen und gesellschaftlichen Interessen zu unterscheiden zwischen notwendigen Konsequenzen aus sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einerseits und notwendigen Eckwerten einer humanen und sozial verantwortbaren Bildungspolitik andererseits. Das Festhalten am Bestehenden und das Negieren beobachtbarer und wirksamer Trends können zum Untergang humaner und sozialer Bildungsziele führen, anstatt daß sie – wie gewünscht – erhalten bleiben. In diesem Sinne flexibilisiert sich auch das Verfahren (nicht das Ziel!) von Bildungspolitik. Und es erhöht sich die Notwendigkeit, aktiv politisch die Entwicklung des Bildungswesens zu gestalten.

Literatur

Bell, Art: The Quickening – Today’s Trends, Tomorrow’s World. New Qrleans 1997
Faulstich, Peter (Hrsg.): Lernkultur 2006 – Erwachsenenbildung und Weiterbildung in der Zukunftsgesellschaft. München 1990
Gieseke, Wiltrud u. a.: Evaluation der Weiterbildung. Gutachten. Soest 1997
Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend ‘97 – Zukunftsperspektiven, Gesellschaftliches Engagement, Politische Orientierungen. Opladen 1997
Krug, Peter: Weiterbildung als Zukunftsfaktor. In: Nuissl, E./Schiersmann, Ch./Siebert, H. (Hrsg.): Pluralisierung des Lehrens und Lernens. Bad Heilbrunn 1997
Nuissl, Ekkehard: Weiterbildungspolitik in den Bundesländern, in: REPORT 33/1994
Reichard, Christoph: Dienstleistungsunternehmen Kommune, in: REPORT 32/1993
Willke, Hellmut: Supervision des Staates. Frankfurt/M. 1997


Ekkehard Nuissl von Rein: (Weiter-)Bildungspolitik im nächsten Jahrhundert. Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-1998/nuissl98_02.htm
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid