Hedwig Ortmann, November 1997


Vortrag auf der Tagung "Eine Zukunft für Frauen und Männer", 12.-14. November 1997. Vollständige Dokumentation der Tagung

Die Zukunft der Geschlechterbeziehung

Voraussetzungen und Wirkungen eines integralen Bewußtseins

„War das Hauptthema des mentalen Menschen seine Beziehung zu Gott, der dem Mentalen gemäß als eine fixierte, standhaltende Größe vorgestellt und an dem der Vater-Aspekt überbetont wurde, so wird mit Niedergange der mental-patriarchalischen Haltung diese Beziehung hinfällig. An ihre Stelle tritt der auf sich selbst zurückgewiesene Mensch."

Jean Gebser

Einleitung

Es gibt in der neueren Geschichte immer wieder Versuche, aus den bisherigen Entwicklungen der Menschheit, aus dem Verlauf der Menschheitsgeschichte also, Prognosen für die Zukunft abzuleiten. Mehr noch: All unsere forschenden Unternehmungen enthalten ja immer auch prognostische Aussagen oder können als solche verstanden werden. Oft sind dies allerdings zu erwartende Katastrophen und Krisen und zugleich Appelle an uns alle, etwas dagegen zu tun, den Dingen nicht einfach ihren Lauf zu lassen. Einige wenige aber gehen noch anders vor. Ihre Prognosen resultieren aus einem Blick sowohl auf das Ganze der menschlichen Geschichte als auch auf die Entwicklungslinien unserer Zeit.

Ein prominenter, wenngleich nur wenigen bekannter Vertreter eines solchen prognostischen Denkens ist Jean Gebser. Er deutet die vielen Krisen und Bedrohungen unserer Zeit als Zeichen eines umfassenden Bewußtseinswandels, in dem sich nicht nur die Inhalte unseres Bewußtseins ändern, sondern vor allem dessen Struktur, in der sich unser Denken bewegt, und damit auch die Perspektive, von der aus wir uns etwas bewußt machen. Nach Gebser besteht die Überwindung unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten nämlich darin, daß wir unsere perspektivische Fixierung, aus der heraus wir die Wirklichkeit betrachten, aufgeben zugunsten einer aperspektivischen Sicht, aus der heraus wir das Ganze erfassen können. Das neu hervortretende Aperspektivische ist für ihn „die unterscheidende Bezeichnung für eine Wahrnehmung der Wirklichkeit, die nicht perspektivisch fixiert nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit gibt oder unperspektivisch verfließend nur eine Ahnung der Wirklichkeit erfühlen läßt" (Gebser 1986, S. 26). Die aperspektivische Wahrnehmung der Welt ist dagegen das Fundament sowohl für die „Präsenz der Zukunft" als auch für die „Transparenz des Geistigen". Beide gehören zu einer sich bildenden neuen Wirklichkeit, „in welcher der Ursprung dank der Gegenwärtigkeit neu aufblüht und in der die Gegenwart umfassend und ganzheitlich ist" (ebd., S. 33 f.). Dies zu wissen, so Gebser, bedeutet unsere Befreiung von einem Denken, das uns als rationales und technokratisches dominiert und fixiert („bannt"), uns dabei aber zugleich immer weiter zu Risiken und zu Zerstörungen treibt. Ein ganzheitliches Denken aber, das mit einer aperspektivischen Wahrnehmung verknüpft ist, zeigt uns die Kräfte und Keime, die zur Entfaltung drängen und die uns das Neue finden lassen, das noch in einer „geistigen Wirklichkeit" verborgen liegt.

„Diese neue geistige Wirklichkeit aber ist ohne jeden Zweifel die einzige Sicherheit dafür, daß die drohende materielle Zerstörung gebannt werden kann, und allein ihre Verwirklichung scheint einen Weiterbestand der Menschheit gegen die Mächte der Technik, der Ratio und chaotischen Seelenstimmung zu gewährleisten." (Ebd., S. 29)

Dies schrieb Jean Gebser schon in den vierziger Jahren. Heute sehen wir uns mit einer immer breiter und intensiver werdenden Kritik an der Moderne bzw. an dem „Projekt Moderne" konfrontiert. Zygmunt Baumann, ein englischer „postmoderner" Kritiker, sagt zum Beispiel: „Die Moderne ist das, was sie ist – ein besessener Marsch nach vorne – nicht deshalb, weil sie immer mehr will, sondern weil sie niemals genug bekommt." (Baumann 1996, S. 24) Wir wissen aber, daß es dieses „genug" nicht geben kann.

So dürfen wir die Kritik Jean Gebsers an der gegenwärtigen perspektivischen Fixierung auch als eine frühe Mahnung verstehen, die Moderne und mit ihr die nur-rationale Denkweise nicht als unabwendbare Gegebenheit, sondern als „Aufgabe" zu sehen, und zwar im doppelten Sinne des Wortes: Die bisherige Fixierung und das bisherigen Denken sind von uns aufzugeben und etwas Neues, eine neue Sichtweise ist von uns zu erarbeiten. Das ist uns aufgegeben.

Ich möchte nun hier zeigen, daß ein Aspekt dieser Aufgabe eine neue Sichtweise des Geschlechterverhältnisses ist bzw. sein kann. Eine nichtdualistische Sichtweise, die zugleich eine im Gebserschen Sinne aperspektivische und damit arationale ist, gibt uns die Möglichkeit, auch dieses Verhältnis neu zu fassen. Dabei müssen wir uns allerdings von den alten Dualismen verabschieden. Um das tun zu können, müssen wir sie zunächst noch einmal sichten und unser Befangensein darin konstatierend annehmen. Erst dann ist ein „Abschied" davon möglich.

Was ist das Ganze?

Häufig wird jedem Versuch, vom Ganzen her zu denken und ganzheitlich wahrzunehmen, die Kritik entgegengesetzt, daß es sich dabei um eine leere und ideologische Begrifflichkeit handele. Was das Ganze sei, könne niemand bestimmen. Auch könne es keine Kriterien dafür geben. Die Rede vom Ganzen wolle nur die vorhandene Komplexität und Widersprüchlichkeit sowie ihre durch das moderne Denken erfolgte Ausdifferenzierung wieder verwischen und zurücknehmen. Deshalb seien „ganzheitliche" Sichtweisen eher irrational und gefährlich.

Nimmt man jedoch das Strukturmodell Gebsers und auch die postmoderne Kritik am modernen Denken, wie sie etwa Baumann vorgetragen hat, ernst, dann ist die oben beschriebene Kritik selbst Ausdruck einer perspektivischen Fixierung. Aus der Perspektive des nur-rationalen und dualisierenden Bewußtseins nämlich bedeutet jede ganzheitliche Betrachtung eine Gefährdung ihrer dominanten, alles beherrschen wollenden Position. Das Bekämpfen von Ganzheit wird hier also zum Ausdruck der perspektivischen Fixierung.

Was aber könnte das Ganze sein? Nach Gebser entsteht Ganzheit durch die Konkretisierung der Beziehung zwischen Ursprung und Gegenwart. Und diese wiederum geschieht durch eine Bewußtwerdung des Ganzen des bisherigen historischen Entwicklungsprozesses und damit durch „Einsichten in die Mutationen der Menschheit von den Uranfängen bis heute" (Gebser 1986, S. 23). Vor dieser durch Zeit charakterisierten Entwicklung liegt nach Gebser „die Ganzheit des Anbeginns", der Ursprung. Die Ganzheit der Zeit und des Zeithaften, also unsere eigene Ganzheit, aber liegt nach Gebser in der Gegenwart. Diese wiederum umfaßt das Ganze der Zeit: der Vergangenheit und der Zukunft, des Momentes und der Dauer, des Zeithaften und des Zeitlosen. Gegenwart ist deshalb zugleich Integration und Integration ist wiederhergestellte Ganzheit. Gegenwärtiges integrales Bewußtsein ist damit das ganzheitliche Bewußtsein der soeben anbrechenden Epoche, die eine Überwindung der Moderne ist. Kraft dieses neuen Bewußtseins mögen wir die perspektivische Fixierung und die sich daraus ergebenden verzerrenden Sichtweisen auf unsere Verhältnisse aufgeben und eine neue Ordnung finden. Das betrifft insbesondere auch die Geschlechterfrage und damit die generelle Neuordnung der Beziehungen von einem Ich zu einem Du. Bei Gebser heißt es: „Und wenn wir für ein Ordnen, für ein Bewußtwerden unserer Beziehungen zum Ich wie zum Du plädieren, so handelt es sich dabei in hohem Maße um ein Ordnen und Bewußtwerden unseres Ursprungs und alles dessen, was zu unserer Gegenwart führte." (Ebd. 1986, S. 28)

Was Gebser nun auf vielen Seiten seines dreibändigen Werkes entwickelt, kann hier nur kurz angedeutet werden. Es geht ja auch zunächst darum, den Gedanken eines neuen, integralen Bewußtseins so weit auszuformulieren, daß sein Zusammenhang mit der Neuordnung des Geschlechterverhältnisses sichtbar werden kann.

Es sind nach Gebser drei Bewußtseinsstrukturen, die die Menschheit in ihrer bisherigen, für uns einsehbaren Geschichte durchlaufen hat: die magische, die mythische und die mentale. Diesen Bewußtseinsstrukturen entsprechen die Sicht- bzw. Wahrnehmungsweisen des Vor- bzw. Unperspektivischen (magisch und mythisch) und des Perspektivischen (mental).

Wichtig ist nun Gebsers Aussage, daß die mentale Struktur seit einigen Jahrzehnten in ihre defiziente Zerfallsphase eingetreten sei. Gebser bezeichnet diese defiziente Phase als die rationale. Es ist diese Rationalität und damit die verzerrende Fixierung der Perspektive, die unzureichend geworden ist für die Bearbeitung der Probleme, die vor uns liegen. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als den Prozeß, der sich von sich aus vollzieht, mitzuvollziehen und damit die Nur-Rationalität zu überwinden.

„Wir können nur eines tun: In der Betrachtung aller Äußerungen unserer Zeit so weit und so tief vorzustoßen, daß uns die dämonischen und zerstörenden Aspekte nicht mehr bannen, so daß wir nicht nur sie sehen, sondern hinter und unter ihnen die unermeßlich starken Keimlinge des Neuen wahrnehmen, für das die einstürzende Welt den Humus liefert." (Ebd. 1986, S. 29)

Diesem Gedanken folgend können wir nun auch beginnen, das Geschlechterverhältnis neu zu sehen.

Eine kurze Geschichte des Geschlechterdualismus

Wir können uns nun vor dem Hintergrund des Epochen-Strukturschemas von Gebser der Frage zuwenden, welchen Wandel das Geschlechterverhältnis durch die Bewußtseinsmutation erfahren hat. In der Tat widmet sich auch Gebser immer wieder dieser Frage an verschiedenen Stellen seines Werkes in mehr oder weniger ausführlichen Anmerkungen. Seine These ist dabei deutlich:

Auch die explizite Ausgestaltung der Kategorie Geschlecht und der Beziehungen der Geschlechter zueinander wird durch die jeweilige Bewußtseinsform bestimmt. Dabei ist es wichtig zu sehen, daß der heute geltende Geschlechterdualismus, in dem die beiden Geschlechter als Gegensätze zueinander gedacht werden, erst der mentalen Bewußtseinsform entspricht. Die Welt des mythischen Bewußtseins dagegen hat die Geschlechter in einem Verhältnis der polaren Entsprechung gesehen, bei der jedem Geschlecht auch ein Anteil am jeweils anderen innewohnt.

Das weibliche Geschlecht hatte jedoch durch seine andere Stellung in den Rhythmen der Natur und in der biologischen Fortpflanzung eine gewisse Höherstellung im Ganzen des Lebens einer Gemeinschaft. Die mythische Gesellschaft kann deshalb auch als matriarchale Gesellschaft bezeichnet werden, der eine Betonung weiblicher Bewußtseinsstrukturen entspricht.

Auch diese Strukturen gerieten aber nach Gebser in eine jeweilige Phase der Defiziens. Das führte jeweils zur Entwicklung einer gänzlich neuen, der mentalen Struktur. In ihr wurde das männliche Geschlecht vorherrschend, ja diese Struktur diente der Befreiung des Männlichen aus der nunmehr erschöpften mythischen Struktur mit seiner Betonung des Weiblichen. Diese Vorgänge können wir historisch im alten Griechenland lokalisieren. Ihre endgültige Ausprägung erhielten sie in Europa erst im Zeitalter der Renaissance und in den folgenden Jahrhunderten.

Der Mann schuf nun die neue Bewußtseinsform des Mentalen zur Überwindung der weiblich-matriarchalen Welt und mit ihr all das, was heute die Welt der Moderne mit ihrer entwickelten Wissenschaft und ihrer hochwirksamen Technik ausmacht. Auch diese Welt erschöpft sich bereits im Rationalen, das heißt in der Defiziensform des Mentalen und dem damit zusammenhängenden Glauben an die Machbarkeit eines unaufhaltsamen Fortschritts der Menschheit durch Wissen und Technik. Damit aber findet auch die Vorherrschaft des Männlichen ein Ende.

Bei Gebser heißt es, daß mit dem Patriarchat auch eine Betonung der rechten Seite und mit ihr das gerichtete Denken und die Recht- und Gesetzgebung bedeutsam wurden, wie die ersten Gesetzgebungen durch Moses und später in Griechenland durch Lykurg und Solon zeigen.

„Als natürliche Begleiterscheinung, die dann natürlich ist, wenn wir daran denken, daß die rechte Seite nicht nur für das wache, sondern auch für das männliche Prinzip steht, ergibt sich aus jeder Gesetzgebung, aus jedem Richten, die Betonung des väterlichen Prinzips. ... Mit Moses und Lykurg tritt das Patriarchat in Erscheinung; das Matriarchat, die bergende Welt der schützenden Dunkelheit, wird abgelöst durch das Ausgesetztsein in der Wachheit: von nun an muß der Mensch sich selber richten." (Ebd. 1986, S. 135)

Von da an spielt die linke Seite nicht nur als die Seite des Dunklen und Unbewußten eine Rolle, sondern auch als die Seite des Weiblichen und des Dämonischen, wie uns viele Beispiele der mittelalterlichen Kunst immer wieder vor Augen führen (vgl. ebd. 1986, S. 134 ff.).

Wir treffen in dieser scheinbar unbedeutenden Dominanz der rechten Seite auf weitläufige sprachliche Zusammenhänge von Recht und richten, von ausrichten und anrichten, von rechtmäßig und richtig etc., die für das mentale Denken konstituierend sind. Zugleich vollzog sich die Verbannung des Weiblichen auf die linke Seite, die als Seite der Unwissenheit, der Natürlichkeit, des Bösen und Hexenhaften galt und gilt. Damit ist nicht ein absichtlicher und bewußt veranstalteter Vorgang gemeint, sondern die Jahrhunderte währende Herausbildung des mentalen Bewußtseins, das nun die „richtige" Bewußtseinsform des Patriarchats ist.

Doch der Beginn dieser neuen Phase ist keineswegs als ein sanftes Geschehen anzusehen. Im Gegenteil, um die männliche Dominanz zu erreichen, mußte ein „Muttermord" geschehen. Gebser beschreibt, was damit gemeint ist:

„Durch die mentale Struktur erhält das männliche Prinzip die Betonung. Und die Gesetzgebung Solons steht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Muttermord, wie er uns in der Orestie überliefert wurde und selbst im Bereiche der Götter geschah: Zeus verschlingt eine Mutter, jene Metis, die mit Athene schwanger ging. Anders ausgedrückt: sowohl Gesetzgebung als auch der Muttermord entspringen der gleichen, neu sich bildenden Bewußtseinsstruktur. Die Erschütterungen, die dieser Mord auslöste, müssen ungeheuer gewesen sein. ... sie klingen selbst heute noch nach, ja die Konsequenzen werden immer deutlicher." (Ebd. 1986, S. 223)

In der Tat hat die immer weiter fortschreitende Auslöschung der Welt der Mutter und des Mütterlichen eine Situation hervorgebracht, die auch von anderen Autoren als Ausschaltung und Austreibung von allem betrachtet wird, was die eindeutige Ordnung des patriarchalen Prinzips stören könnte. Ein anderes Geschlecht neben dem „einen", dem männlichen, zu denken erscheint danach als Wiederkehr der doch ausgerotteten Unsicherheit, daß das Weibliche wiederkehren und seine alten „Rechte" wieder beanspruchen könnte. Wer so denkt, beweist seine Unvernunft, eine als Unfähigkeit gebrandmarkte Ambivalenz und eine unterschwellige Unsicherheit gegenüber der weiblichen Seite des Bewußtseins. So bleibt dem mentalen Bewußtsein eine unterschwellige und abgewehrte Tendenz der Ambivalenz eigen, die insbesondere mit allem einhergeht, was das Weibliche, die Frau und die Natur angeht. Diese Ambivalenz zu bekämpfen, ja das rationale Bewußtsein ein für allemal davon zu befreien, gehörte auch nach Ansicht anderer Autoren zum „Projekt Moderne". Dieses aber ist gescheitert, wie sich immer häufiger erweist. Gebser sah das schon in den vierziger Jahren voraus. „Postmoderne" Autoren zeigen es heute gegen Ende des Jahrhunderts auf als Obsession und wahnhaftes Verlangen nach einer alles in „richtig" oder „falsch" kategorisierenden Ordnung. Und trotzdem hält heute wieder die Ambivalenz des polaren Denkens und die Unsicherheit einer überall sichtbar werdenden Kontingenz der menschlichen Situation Einzug in das Bewußtsein.

„Die Entdeckung, daß Ordnung nicht natürlich ist, war die Entdeckung der Ordnung als solcher. Der Begriff der Ordnung trat gleichzeitig mit dem Problem der Ordnung ins Bewußtsein, der Ordnung als einer Sache von Entwurf und Handlung, Ordnung als einer Obsession. Um es noch grober auszudrücken, Ordnung als Problem taucht erst im Kielwasser der Beunruhigung über Ordnung auf, als eine Reflexion auf die ordnenden Praktiken." (Baumann 1996, S. 19)

Doch die (männliche) Ordnungssucht schuf auch das wissenschaftliche Denken. Auch dieses ist zugleich eine unentwegte Anstrengung der Klassifizierung und Definition, der Ausgrenzung und Eingrenzung. Alles scheint erkannt zu sein, wenn es definiert ist.

„Da die Souveränität des modernen Intellekts die Macht ist, zu definieren und den Definitionen Wirksamkeit zu verschaffen – ist alles, was sich der unzweideutigen Zuordnung entzieht, eine Anomalie und eine Herausforderung." (Ebd. 1996, S. 21)

Obwohl Baumann nicht explizit erwähnt, daß es sich bei dem „Projekt Moderne" mit den hier zum Ausdruck kommenden wahnhaften Ordnungs- und Definitionsbestrebungen um eine „männliche" Obsession handelt, können wir doch die Spuren des „Muttermordes" erkennen, dem diese Leidenschaft entspringt. Heute wird jedoch immer mehr sichtbar, wie sehr die unaufhörliche Geschäftigkeit im Ordnen und Begrenzen ins Leere läuft. Alles wird zu einer endlosen Geschäftigkeit und Ruhelosigkeit, und der Fortschritt besteht im Vermeiden von Gegenwärtigkeit, wie es auch Baumann sieht:

„Die Ruhelosigkeit ist eine Sisyphusarbeit, und der Kampf mit der Unbehaglichkeit der Gegenwart nimmt das Aussehen historischen Fortschritts an." (Ebd. 1996, S. 25)

Eine lange Zeit, eine ganze Epoche in der Entwicklung der Menschheit waren die Frauen auch definitorisch die Ausgegrenzten, die auf der „linken" Seite der Geschichte ihren unbedeutenden Platz zugewiesen bekamen und ihn während vieler Jahrhunderte, oft unter Protest und Rebellion, einnahmen. Was aber bedeutet es nun, sich mit der Rolle der Ausgegrenzten und Schweigsamen, der Unterdrückten und der Namen- und Traditionslosen nicht mehr abzufinden und sie zu verlassen? Die Frauenbewegung hat mindestens zwei Antworten darauf gegeben: den unakzeptablen zu Platz verlassen und sich auf die Seite der Männer zu schlagen, um gleichen Anteil an Wissen und Ordnung, an (Grenz-)Macht und ruheloser Geschäftigkeit im Berufsleben erhalten zu können. Das ist die eine Antwort. Eine zweite ist schwieriger zu beobachten, weil sie sich weit weniger spektakulär in den Praktiken der sozialen Welt abbildet: die Aufwertung und Umgestaltung des Platzes auf der linken Seite, ja die Befreiung von der Fixierung auf einer Seite, die Aufhebung des dort Festgestelltseins. Das ist zugleich auch eine Wiederbelebung älterer Strukturen, solche, die – von uns aus gesehen – historisch hinter den „Muttermord" zurückreichen und die die magischen und mythischen Komponenten eines neuen, nämlich integralen Bewußtseins ausmachen. Diese Antwort kommt zum Beispiel in dem immer wieder versuchten und sich manchmal langsam und oft auch stürmisch entwickelnden „Erkenntnisprojekt Feminismus" zum Ausdruck.

Aber kommen wir so zu einem anderen Geschlechterverhältnis?

Auf dem Weg zu einer asexuellen gesellschaftlichen Praxis?

Zuvor ist einem vielleicht naheliegenden Mißverständnis vorzubeugen: Es geht mit dem Wort asexuell nicht um eine gesellschaftliche Praxis, in der die Geschlechtlichkeit der Menschen aufgehoben oder negiert wird. Es geht, wie bereits eingangs erwähnt, um die präzise Bedeutung der Vorsilbe „a" im Sinne von „nicht festgelegt" oder „frei von".

Mit asexuell ist also nicht Neutralisierung, sondern die Befreiung von der ausschließlichen Gültigkeit des Sexuellen als sozialer Orientierungsmöglichkeit gemeint. Erst eine solche Befreiung ist eine Befreiung von der perspektivischen Sichtweise des dualistischen Geschlechterkonzepts. Diese Befreiung kann uns erlauben, den Menschen und das Humane wirklich als etwas beiden Geschlechtern Gemeinsames in den Blick zu nehmen. Wir sind dann nicht mehr darauf fixiert, einen Unterschied „festzustellen", sondern wir kennen weiterhin die Tätigkeit des Unterscheidens. Diese aber bleibt eine dynamische und damit veränderliche Tätigkeit und ist nicht mehr an der Definition ein für allemal geltender Unterschiede interessiert. Das asexuelle Denken ist ein von der Ordnungs- und Klassifizierungssucht befreites Denken, das gleichwohl temporär geltende Ordnung kennt.

Was aber folgt daraus für das gesellschaftliche Handeln? Folgen wir den Gebserschen Ideen, dann muß die Befreiung oder Emanzipation der Frau unmittelbar etwas mit der Entwicklung des neuen integralen Bewußtseins zu tun haben. Vielleicht sogar ist der Anteil, den Frauen an dieser Erneuerung haben, entscheidend.

Allerdings vollzieht sich die Initiierung und Weiterentwicklung einer so verstandenen Emanzipation nicht unbedingt in den lauten Foren der modernen Öffentlichkeit. Diese sind in der Regel (noch) nicht dazu geeignet, subtile und doch einschneidende und die Strukturen des Bewußtseins betreffende Veränderungen abzubilden. Diese Foren (Medien, Wissenschaft, Politik) sind ja Abkömmlinge und damit noch Ausdruck des rationalen und perspektivisch fixierten Bewußtseins. Sie bekämpfen alles Fremde und Nichtklassifizierte, aber auch alles Gegenwärtige durch Ausgrenzung.

Was also können wir hoffen und was erwarten? Die Schwierigkeit, die bei dem Versuch der Beantwortung solcher Fragen auftaucht, liegt auch in dem „Noch-Nicht" der Sprache begründet, mit der wir das zukünftig Mögliche zu beschreiben hätten. Wir können aber einige Irrwege beschreiben, die vielleicht heute noch viele Menschen beeindrucken, weil sie populär geworden sind. Vom Ganzen her gesehen, das heißt von der Ganzheit einer zugleich möglichen und wünschenswerten Entwicklung aber erscheinen sie als Irrwege. Dabei sind diese Irrwege für Männer und Frauen verschieden.

(1) Männliche Irrwege

Aus einer dem Rationalen verhaftet bleibenden Sicht kann die Emanzipation von Frauen als Umverteilung von Rechten und Privilegien und damit insgeheim als Beraubung des Mannes von angestammten Rechten, Privilegien und Besitz erscheinen. Männer können dann versucht sein, diese Beraubung mit allen Mitteln abwenden zu wollen. Bei Gebser heißt es dazu:

„Wohl aber wird der Mann auf manche Anmaßung verzichten müssen, damit eine Welt entstehen kann, die weder mutter- noch vaterbetont und auch keine bloß vermännlichte Welt ist, sondern die in Frau und Mann den Menschen ehrt und nicht nur menschlich, sondern menschheitlich denkt." (Gebser 1986, S. 224)

Ein Verzicht ist aber nur denjenigen möglich, die sich und ihre eigene Entwicklung vom Ganzen her sehen können und die zudem bereit sind, die Anstrengung einer Selbstbildung zum integralen Bewußtsein hin auf sich zu nehmen. Aufgrund einer solchen Anstrengung erst kann sich eine neue Männlichkeit, ein mit neuem Vermögen ausgestattetes männliches Selbst entwickeln. Eine solche Entwicklung ist vielleicht vielfach durch Frauen angestoßen worden. Sie geschieht aber nicht primär der Frau (der Mutter) zuliebe, sondern der Erringung der eigenen integralen Bewußtseinsstruktur zuliebe. Aus diesem Bewußtsein heraus kann sich dann ein neues Geschlechterverhältnis entwickeln und damit auch ein neues Verständnis von Sexualität, Liebe und Solidarität.

(2) Weibliche Irrwege

Für Frauen kann all das, was den Männern schon möglich ist, als Verlockung erscheinen, das Gleiche erreichen zu wollen. Mit der Forderung nach Gleichberechtigung aber ist immer auch die Anerkennung der „rechtsbetonten" Verhältnisse, so wie sie unter der Vorherrschaft des Männlichen geworden sind, verbunden. Für Frauen bedeutet zudem ein bloßes Verlassen des ihnen bislang zugewiesenen Platzes auf der linken Seite eine Wiederholung bzw. Wiederbelebung des symbolischen Muttermordes und ein Sich-bewähren-Müssen in der rational defizienten Bewußtseinsstruktur. Damit aber sind die Kräfte zu einer eigenständigen Entwicklung, zu einem arationalen und asexuellen Bewußtsein blockiert, und der Weg ins integrale Bewußtsein ist versperrt. Das heutige Denken verläuft ja meist noch in den Bahnen der traditionellen Auffassungen, und nicht selten wird alles darüber hinausgehende Denken auch von Frauen erbittert bekämpft. Es ist oft dann die Verbissenheit der „Konvertitin", mit der nun die zugänglich gewordene rationale Wissenschaft verteidigt und alles Abweichende als „unwissenschaftlich" disqualifiziert wird. Auch Frauen geraten so in die perspektivische Fixierung und die damit zusammenhängenden Obsessionen.

Dieser Irrweg äußert sich unter anderem auch in einer sich aufblähenden empirischen Frauenforschung, die oft nur von Außenseiterinnen in ihrer fixierenden Sichtweise wirklich durchschaut und kritisiert wird. Allerdings wird diese Kritik dann weder verstanden noch ernstgenommen. Ich gebe dazu eine Passage aus einer Publikation der Frauenforscherin Dagmar Schultz wieder, in der die Iranerin Farideh-Akashe-Böhme zitiert wird:

„Ich möchte nicht als die unterdrückte, arme Schwester aus der Dritten Welt ab und an zu Worte kommen und ich möchte auch nicht als Objekt Eurer wissenschaftlichen Erkenntnisse fungieren. Damit ihr wieder einen Forschungsantrag stellen könnt, damit Ihr wieder einige Stellen besetzen könnt. Wir möchten mit Euch zusammen etwas über uns erforschen und dies nicht in so asymmetrischer Weise, wie dies bis dato der Fall ist. Ich möchte, daß wir über unsere Gemeinsamkeiten und Differenzen miteinander diskutieren und nicht, daß ihr distanziert, wissenschaftlich und auf der Metaebene uns fremde Frauen erforscht und damit wieder ein Dissertations-Projekt realisiert." (Schultz 1997, S. 138)

Besser als jede abstrakte Analyse zeigt dieser Text, daß hier das in der Forschung sich immer wieder einstellende Subjekt-Objekt-Verhältnis auch in der Frauenforschung als eine Strategie der Ausgrenzung und Entfremdung von anderen Frauen verstanden und verworfen wird. Doch die Autorin des Beitrags versteht etwas anderes: Sie glaubt, die iranischen Frauen suchten Wege, um ebenfalls an Forschungsmittel zu kommen, und appelliert an die „deutschen Kolleginnen", sich für die Immigrantinnen einzusetzen, um „ihre Privilegien für andere Frauen nutzen" zu können (Schultz 1997, S. 139). Die Einsicht, daß andere Frauen eben nicht in die Bewußtseinsform des rationalen Denkens gepreßt und zu eigenen Zwecken („Dissertations-Projekt") abgeforscht werden wollen, kann so nicht entstehen. Mir scheint, daß es kaum eine Kritik an der Frauenforschung und ihren zu kurz greifenden Fragestellungen und Methoden geben kann, so lange nicht das Dilemma der positivistischen Forschung und ihrer Einbindung in die dualistischen Strukturen des rationalen Bewußtseins offengelegt werden. Das freilich erfordert eine Selbstreflexion forschender Frauen, die zugleich eine Vergegenwärtigung der Aufgabe ist, die uns heute aufgegeben ist, wenn wir die überkommenen Fixierungen ablegen wollen. Es geht ja dann für Frauen nicht mehr nur um eine nachholende Entwicklung und um eine Modernisierung des weiblichen Bewußtseins. Es geht vielmehr um eine Überwindung der Moderne selbst als der gesellschaftlichen Ausdrucksform der perspektivischen Fixierung eines nur-rationalen Bewußtseins. Damit geht es um Arationalität und Asexualität und um Integration beider in einem jetzt neu bestimmbaren „Humanen".

So lange es bei den hier für Männer und Frauen dargestellten Irrwegen bleibt, wird der Kampf der Geschlechter gegeneinander und untereinander noch zunehmen und sich mit anderen Kämpfen und Kriegen verbinden. Das Wissen um eine gänzlich andere Aufgabe, um etwas uns Aufgegebenes zwingt uns allerdings zu einer Entscheidung: den Irrweg zu verlassen oder einer defizient und das heißt auch zerstörerisch gewordenen Bewußtseinsform verhaftet bleiben und einstweilen noch die daraus resultierenden „Privilegien" und vor allem aber die Scheinsicherheit des Altbewährten zu genießen.

Zum Schluß will ich noch – zur Ermutigung – einige Gedanken zu einer gelungenen Integration der alten Bewußtseinsstrukturen in eine neue Struktur eines integralen Geschlechterverhältnisses formulieren.

Die Kunst des gegenseitigen Wahrens

Was können wir also tun? Und was können wir jetzt beginnen, wenn wir die Gebserschen Gedanken ernstnehmen und der Möglichkeit des Integrats als künftiger Bewußtseins- und auch Gesellschaftsform eine Chance geben wollen? Eine erste Antwort könnte sein: uns auf diejenigen geistigen Aktivitäten konzentrieren, die das neue Bewußtsein hervorbringen, ja es ausmachen. Das ist nicht leicht, aber mit etwas wirklich Neuem zu beginnen war nie leicht. Und doch sind in der Geschichte immer wieder ungeheure Anstrengungen von Menschen unternommen worden, wenn diese als sinnvoll oder notwendig erkannt worden waren.

Heute ist es das Abenteuer der Subjektwerdung beider Geschlechter und das Erschaffen von sozialen Formen für ein neues Verhältnis, in dem die Tradition der gegenseitigen Zerstörung und der Selbstzerstörung im Geschlechterkampf aufgehoben ist, das diese Anstrengungen erfordert.

Im Laufe der Geschichte hat es immer wieder Menschen gegeben, die ein persönliches Interesse daran hatten, sich von zerstörerischen Traditionen zu befreien. Das bedeutete immer auch eine Auflehnung gegen und Überwindung von „Weitergabegewalten", wie Peter Sloterdijk sie nennt. Denn das Interesse – so Sloterdijk„spinnt einen der Fäden, aus denen die Weltgeschichte geworden ist: es will sich lösen von Traditionen der Selbstzerstörung, die den Menschen durch alte Weitergabegewalten ins Fleisch gebrannt sind und die unwiderstehlich durch die Jahrhunderte proliferieren" (Sloterdijk 1986, S. 46).

Verharren wir noch einen Moment bei diesem Autor. Auch er lokalisiert im alten Griechenland den Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat. Die Trennungslinie geht in seinen Augen mitten durch eine Beziehung, die wir als ideale Lehrer-Schüler-Beziehung zu sehen gelernt haben: durch die Beziehung zwischen Sokrates und Platon. Sokrates ist nach Sloterdijk noch ein „Muttersohn", während der seine Lehren aufschreibende und überliefernde und sie zugleich auch in seinem Sinne verändernde Platon schon ein „Vatersohn" ist. Die Vatersöhne haben aber das Weibliche aus ihrem Bewußtsein bereits eliminiert.

„Das Geheimnis des Sokrates besteht darin, daß er der letzte Muttersohn des älteren Typs ist, der in der abendländischen Ideentradition von sich reden machte. Die späteren Geisteshelden sind allesamt schon Vatersöhne, deren gesamtes Wissen sich aus der Fähigkeit zur Abstraktion von der Weiblichkeit ergibt." (Ebd. 1986, S. 84 f.)

Um es mit Gebser zu formulieren: Den Vatersöhnen und auch den modernen Vatertöchtern ist die Welt zu einem Gegenüber geworden, das nur „genommen", nämlich wahr-genommen werden kann. Im Nehmen erschöpft sich die geistige Tätigkeit der Vaterkinder, denn das Nehmen ist der Ansporn zum Weitermachen, Weitergehen und nicht Innehalten, zur Ruhelosigkeit des Fortschritts also. So sagt auch Baumann, wie bereits weiter vorne schon einmal erwähnt, daß die Moderne gerade im Nehmen sich erschöpfe, nicht nur, weil sie immer mehr wolle, sondern weil sie niemals genug bekomme.

Deshalb sei nunmehr – so Gebser – das Nehmen durch das Geben zu „gänzlichen". Der Mensch, der das Patriarchat in Richtung Integrat zu überschreiten vermag, ist ein Mensch, der mit dem Wahrnehmen auch ein Wahrgeben kennt und der beide zu einem „Wahren" zu verbinden vermag. Das ist in einem durchaus alltagspraktischen Sinn gemeint. Das Wahren ist nach Gebser zugleich ein Gegenwärtigen, und das bezieht sich zum Beispiel auf die Art und Weise, wie wir unsere Sinne zu betätigen und wie wir den anderen Menschen zu sehen und ihm zu begegnen vermögen. Das Wie aber entscheidet sich auch daran, wie wir die Zeit zu wahren verstehen: Kann sie uns als Ganzheit erscheinen und zugänglich werden? Diese Ganzheit alles Zeithaften und Zeitlichen ist nach Gebser stets „die Gegenwart, die voll wirkender Wirklichkeit alle Phasen der Zeit: das Gestern, Heute und Morgen umspannt und selbst Vorzeitliches und auch das Zeitlose einschließt" (Gebser 1986, S. 23). In der Gegenwart gelingt es uns, zu der Wahrheit des anderen, des anderen Menschen und des anderen Geschlechts, vorzudringen und dieser Wahrheit ihre Zeit zu geben. Wir werden so zur Wahrgebung fähig, indem wir Zeit geben und damit das andere und den anderen sich „zeitigen" lassen.

Nur in der Gegenwart wird – wie Gebser an einer anderen Stelle vermerkt – „das Gegenwärtige wahrnehmbar, so wie jedes Wahrnehmen ein wahrgebendes Gegenwärtigen ist" (ebd. 1986, S. 366).

Wir berühren hier auch die Dialogphilosophie von Martin Buber und seiner Konzeptualisierung der Ich-Du-Beziehung in der Menschenwelt, die der Ich-Es-Beziehung der Welt der Sachbezüge gegenübersteht. In der Ich-Du-Beziehung wirkt unsere „Beziehungskraft und darum die Gegenwart" (Buber 1994, S. 115). Und mit dieser Beziehungskraft bewirken wir die Gegenwärtigkeit des anderen, wir nehmen ihn in seiner Präsenz wahr und geben ihn somit zugleich wahr. Das ist es, was Gebser unter dem Wahren der zukünftigen und zugleich schon gegenwärtigen Möglichkeit auch des Geschlechterverhältnisses versteht. Dahin zu finden und damit die voll wirkende Wirklichkeit des Gegenwärtigen zu leben, ist zugleich jene Aufgabe, von der schon die Rede war: Es ist uns aufgegeben, die Arbeit, das heißt die große Anstrengung des Dahinfindens, auf uns zu nehmen.

Doch haben wir die Möglichkeit der kleinen Schritte und des sanften Beginns. Wir können auch sagen, daß jeder, auch der bescheidenste Versuch, diese Ich-Du-Beziehung zu einem Menschen des eigenen oder des anderen Geschlechts zu realisieren, das Geschlechterverhältnis verändert, ja auf eine sanfte Art revolutioniert. Und jede Begegnung, in der ein Ich sich der Tatsache bewußt ist, daß es zugleich ein Du hervorbringt, ist wahrgebend. In einer solchen Begegnung kann ich mich in meiner Wahrheit annehmen und den anderen wahrgeben. Es entsteht eine „Welt ohne Gegenüber", wie Gebser sagt. Das heißt, daß das Gegenüber zum Partner = Teilhaber geworden ist. Das betrifft zentral das – neue bzw. neu möglich werdende – Geschlechterverhältnis.

Auch in den Konzeptionen eines neuen humanistischen Denkens in der Pädagogik – in der „Humanistischen Pädagogik" zum Beispiel – werden solche Grundgedanken in eine pädagogische Praxis transponiert. Es zeigt sich, daß sie eine starke Anziehungskraft für Studierende, aber auch für Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter und an der „Bildung Arbeitende" haben. Kontakt, Begegnung und die Kunst des Wahrens stehen hier an der ersten Stelle des Curriculums. Exemplarisch hierfür ist zum Beispiel das Gaia-Konzept von Sylvia Kolk, das im Rahmen einer Ausbildung zur „Feministischen Bildungsreferentin" realisiert wird (vgl. Kolk 1994).

Die Kunst des Wahrens meint also nichts anderes als die gegenseitige würdigende Wertschätzung des jeweils anderen Geschlechts. Eine solche würdigende Wertschätzung ist eine Tätigkeit, die sich nur in der Gegenwart und als Einheit von Denken, Imaginieren und Fühlen vollziehen kann. Sie wird angetrieben durch die Energie, die auf Beziehung und Begegnung (Kontakt!) gerichtet ist. Und sie wird begleitet von dem Gewahrsein des eigenen Tuns. Diese „Wahren" vollzieht sich einerseits in der Gegenwart und bringt zugleich Gegenwart hervor. Das Gewahrsein ist damit das Bewußtsein, das als Integrales das Ganze „wahrt" und auf die Ganzwerdung hindrängt.

Zu wem aber gehört dieses Bewußtsein? Wer ist Akteur bei dieser Tätigkeit des Gegenwärtigens und des Wahrens? Wir können davon ausgehen, daß auch das „alte" und perspektivisch fixierte Ich transzendiert wird in Richtung auf ein „Selbst" bzw. – mit Gebser – auf ein „Sich".

Ich will es an dieser Stelle bei diesen Andeutungen belassen, wohl wissend, daß hier eine ganze Reihe neuer Fragen aufgeworfen sind.

Für unseren Zusammenhang ist es noch wichtig zu betonen, daß die Wandlung des Geschlechterverhältnisses schon da begonnen hat, wo sich Begegnung und würdigende Wertschätzung vollziehen. Im Rahmen meiner universitären Lehrtätigkeit kann ich sagen, daß dieses sich bei den jüngeren Menschen im Verlaufe eines Wachstumsprozesses erstaunlich oft und beständig ereignet. Ein solches Bezogensein auch der Geschlechter aufeinander bedeutet eine entschiedene Abkehr von der traditionell vorgegebenen einseitigen Bewunderung des Mannes durch die Frau und eines auf die anscheinend „nur-physischen" Reize der Frau gerichteten Begehrens des Mannes. Das Begehren selbst wandelt sich, weil es von anderen Interessen angetrieben wird.

Es ist der Feminismus bzw. eine feministische Geschichtsbetrachtung, die uns gelehrt hat, die traditionellen Lebensäußerungen von Frauen anders zu sehen und zu bewerten und das bis dahin unsichtbare Alltagsleben der Frauen sichtbar zu machen (vgl. Benhabib 1995, S. 244). Diese „Umwertung" gilt es miteinzubringen in das neue Geschlechterverhältnis. Es könnte nun auch der Feminismus sein, der als soziale Bewegung die Idee einer integralen Persönlichkeit nicht nur entwirft, sondern realisiert:

„Haben wir ein besseres Modell anzubieten als das Modell einer autonomen Individualität mit fließenden Ich-Grenzen und ohne Angst vor dem Anderen?" (Ebd. 1995, S. 267)

Wohl nicht, wenn wir die Welt – in ihrer Gegenwärtigkeit – be-wahren wollen!

Literatur

Zygmunt Baumann: Moderne und Ambivalenz, Frankfurt/Main 1996

Seyla Benhabib: Selbst im Kontext, Frankfurt/Main 1995

Martin Buber: Ich und Du. In: Ders.: Das dialogische Prinzip, 7. Aufl., Köln 1994, S. 7–137

Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart. Teil 1 und 2, Stuttgart 1986

Sylvia Kolk: Von der Selbsterfahrung über die Selbsterkenntnis zur Einsicht. Ein Befreiungsweg im Kontext feministischer Bildungsarbeit, Bielefeld 1994

Hedwig Ortmann: Bildung geht von Frauen aus, Frankfurt/Main 1994

Hedwig Ortmann: Integrative Pädagogik und feministische Praxis – Ein Schulforschungsprojekt und seine erkenntnistheoretischen Hintergründe. In: Bärbel Schön (Hrsg.): Wieviel Therapie braucht die Schule? Donauwörth 1998, S. 117–146

Dagmar Schultz: Ethnische Diskriminierungen von Wissenschaftlerinnen an deutschen Hochschulen. In: Hildegard Mache/Monika Klinkhammer (Hrsg.): Die andere Wissenschaft. Stimmen der Frauen an Hochschulen, Bielefeld 1997, S. 131–142

Peter Sloterdijk: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, Frankfurt/Main 1986


Hedwig Ortmann: Die Zukunft der Geschlechterbeziehung Voraussetzungen und Wirkungen eines integralen Bewußtseins – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2000/ortmann00_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid