Susanne Weissman, November 1997


Vortrag auf der Tagung "Eine Zukunft für Frauen und Männer", 12.-14. November 1997. Vollständige Dokumentation der Tagung

Frauen und die Geschichte der Frauenbewegung – subjektive Erfahrungen und Eindrücke

Der Titel „Frauen und die Geschichte der Frauenbewegung" weckt möglicherweise Erwartungen in bezug auf den Allgemeinheitsgrad dessen, was ich zu diesem Thema sagen möchte. Es geht mir weder um „Frauen" in dieser Allgemeinheit noch um „die" Frauenbewegung", vielmehr möchte ich über einen Ausschnitt meiner Geschichte mit der Neuen Frauenbewegung erzählen. An dieser Stelle wäre es sicher möglich gewesen, den gesamten historisch-gesellschaftlichen Kontext der Frauenbewegung seit Ende der sechziger Jahre zu rekonstruieren; ich habe mich dennoch dafür entschieden, mich auf den Teil zu beschränken, den ich aus meinem eigenen Erleben nacherzählen kann.

Ich bin 1958 geboren; mein Erwachsen-Werden fiel also in die Zeit der (Wieder-)Entstehung der Frauenbewegung. „Frauenbefreiung", „Frauenemanzipation", die Diskussion um den Paragraphen 218, das waren für mich Schlagworte einer Bewegung, die ich damals allenfalls am Rande wahrgenommen habe. In meiner Welt spielten solche Fragen keine Rolle, waren mir im Gegenteil eher fremd. Die Zweitrangigkeit von Frauen gegenüber Männern war für mich – wenngleich nie als solche benannt – immer etwas Selbstverständliches gewesen, in positiver Weise vermittelt als: Frauen widmen ihr Dasein der Gestaltung von Beziehungen zu anderen, kümmern sich um deren emotionale Bedürfnisse etc. Kurz gesagt: Fixpunkt am weiblichen Firmament sind immer die anderen. Selbstbezogenheit kam in dieser Wirklichkeitskonstruktion durch eine Art Tauschhandel vor: als Frau investiere ich in die Bedürfnisse anderer, im Gegenzug dafür werde ich vor den „Rauhheiten" des tagtäglichen (Berufs-)Lebens beschützt. Eigenständigkeit, insbesondere finanzielle Unabhängigkeit, erschien mir in dieser Vorstellung mit Mühen und Härten verbunden, für die Frauen einfach nicht gemacht zu sein schienen. Kurzum: die traditionelle Rollenverteilung erleichtert Frauen alles in allem ihr Dasein.

Ich erinnere nicht mehr, wann ich genau damit begonnen habe, unter dieser Wirklichkeitskonstruktion zu leiden, aber ich erinnere mich, daß es genau das war: zunächst keine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Geschlechter, vielmehr gab es das deutliche Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte. Dabei war eigentlich alles in Ordnung: ich hatte die Rollenerwartungen an mich und an andere zum Lebenskonzept gemacht, hatte früh geheiratet – als mein ältester Sohn geboren wurde, war ich 23 Jahre alt –, also eine „normativ vorstrukturierte Biographie". Mein Bemühen, mich den an mich gerichteten Erwartungen anzupassen, war durchaus erfolgreich, äußerlich zumindest: Ich war versorgt, denn mein Mann war beruflich erfolgreich, hatte ein nettes Kind, und ich durfte es mir leisten, nebenher zu studieren. Trotzdem machte sich ein schleichendes Unbehagen breit. Was wollte ich denn? Weder mir noch meiner Umgebung war klar, worin meine zunehmende Unzufriedenheit und Unausgeglichenheit gründete.

Meine Geschichte mit und in der Neuen Frauenbewegung begann Anfang bzw. Mitte der achtziger Jahre; thematisch stand damit für mich die Auseinandersetzung mit Gewalterfahrungen von Frauen im Vordergrund. Meine Diplomarbeit schrieb ich über Frauen, die in ihren privaten Beziehungen Gewalterfahrungen erlitten hatten. Die Beschäftigung mit dieser Thematik war für mich sehr ambivalent: Einerseits entdeckte ich auf diese Weise zum ersten Mal, daß meine persönliche Unzufriedenheit alles andere als ein rein privates Thema war. Zum anderen wurde damit mein bisheriges (geschlechtstypisches) Lebenskonzept immer fraglicher. Um mir selbst nicht ganz fremd zu werden, begründete ich meine Themenwahl zunächst mit der Möglichkeit, am Beispiel dieser Thematik eine Biographiestudie durchführen zu können, also mit einem methodischen Ansatz. In ähnlicher Weise erklärte ich mir und anderen das Thema meines „Anschlußprojekts", eine Lebenslaufstudie über Frauen, die von ihren (Stief-)Vätern sexuell mißbraucht worden waren. Der methodische Ansatz brachte es mit sich, daß ich mich den Fragen im Zusammenhang mit „weiblichen Normalbiographien" nicht mehr entziehen konnte, ebensowenig wie Fragen nach der Beziehung der Geschlechter. Mein Interesse an dem Thema sexuelle Gewalterfahrungen von Frauen während ihrer Kindheit entwickelte sich zu einem Zeitpunkt, als das Tabu, das darauf lag und im Prinzip noch bzw. wieder liegt, allmählich aufzubrechen begann. Ungefähr drei Jahre zuvor waren die ersten deutschsprachigen Publikationen über sexuellen Mißbrauch in Familien erschienen.

Mit dem Ziel, Interviewpartnerinnen für die Biographiestudie zu gewinnen, knüpfte ich Kontakte zu einer Selbsthilfegruppe für Frauen, die als Mädchen sexuell mißbraucht worden waren. An den wöchentlichen Treffen der Gruppe nahm ich ein Jahr lang teil. Dies gab auch den Anstoß für mich, während einiger Jahre in verschiedenen Frauenprojekten zum Thema „(Sexuelle) Gewalt an Frauen und Mädchen" nebenberuflich mitzuarbeiten.

Im ersten Teil meiner Arbeit zu „Über-Lebenskünstlerinnen" sexueller Gewalterfahrungen versuchte ich, eine Rekonstruktion der verschiedenen Diskurse zur sexuellen Gewalt an Mädchen oder Kindern. Sowohl im Hinblick auf die öffentliche Diskussion als auch in bezug auf die (sozial-)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema hatte ich den Eindruck, daß den am Diskurs Beteiligten kein Dialog möglich war und auch politisch nie wirklich gewollt wurde. Gespräche mit Männern (und zum Teil auch mit Frauen) über „mein" Thema entgleiten spätestens an dem Punkt, wo es um das Verhältnis der Geschlechter im Allgemeinen geht. So lange „Sexualstraftäter" ausgrenzbare Männer sind und mißbrauchte Frauen (bzw. Mädchen) bedauernswerte Opfer, ist eine Verständigung noch ansatzweise möglich, wenn auch mit Einschränkungen.

Die Vorbereitung der Tagung in Kirchheim fiel für mich in eine Zeit, in der ich des Themas „sexueller Mißbrauch" – und in diesem Zusammenhang wie gesagt auch des Geschlechterthemas – zunehmend müde wurde. Hinter meiner Müdigkeit entdeckte ich schließlich ein großes Stück Resignation, was den Dialog, das Miteinander-Reden, anging.

Was haben uns die Versuche gebracht, sexuelle Gewalt zu enttabuisieren unter Einbezug grundsätzlicher Fragen des Geschlechterverhältnisses?

Wenn ich die Medien„diskussion" über sexuelle Gewalt an Mädchen, wie sie im Moment wieder geführt wird, betrachte, dann fallen mir „wechselnde Moden" auf, denen eines gemeinsam ist: die Instrumentalisierung der Problematik zur Durchsetzung unterschiedlicher, aber je eigener Interessen. Wurde die öffentliche Auseinandersetzung gestern noch unter dem Stichwort „Mißbrauch mit dem Mißbrauch" geführt, so liegt der Akzent im Moment darauf, eine Kampagne gegen „Sittenstrolche" und „Triebtäter" zu führen, die sich Politiker zur „persönlichen Angelegenheit" machen. Dabei kommt es zu einer Verschiebung der Diskussion auf den ausgewählten Täterkreis der Fremdtäter; die weitaus größere Tätergruppe aus dem sozialen Nahbereich bzw. innerhalb der Familie bleibt unerwähnt – diese Form ausgrenzenden Denkens erlaubt aber zumindest, sich nicht mehr grundsätzlichen Fragen zum Verhältnis der Geschlechter stellen zu müssen. Derartige Überlegungen werden angesichts anderer dringender gesellschaftlicher Themen kaum noch gestellt – es sei denn im Rahmen „privater" Beziehungen. Insofern wurde mit der öffentlichen Diskussion die alte „Ordnung" wieder hergestellt: Sexuelle Gewalt ist ein „Ausnahmedelikt", über das wir uns empören können, die Diskussion wurde wieder privatisiert und damit auch entpolitisiert.

Das Reden über sexuelle Gewalt an Frauen und Mädchen, ein Miteinander-Reden gar, erscheint mir nach wie vor sehr schwierig, wenn wir die Variante „Triebtäter trifft kleines Mädchen auf dem Schulweg" verlassen und über andere Formen sexueller Gewalt miteinander reden wollen. Ich beziehe mich auf Gewalterfahrungen, die Frauen mit Männern erleben, zu denen sie in irgendeiner Form eine persönliche Beziehung hatten, welcher Art auch immer. Offenbar handelt es hier um ein Thema, das ein hohes Potential für gegenseitiges Gekränktsein von Männern und Frauen enthält.

Gleichzeitig geht das Reden über sexuelle Gewalt zwischen Männern und Frauen vereinzelt offenbar doch, denn die gemeinsame Moderation der Tagung mit Hans-Joachim Lenz hat in gewisser Weise auch eine Geschichte, die sich umschreiben läßt als ein gemeinsames Reden über sexuelle Gewalterfahrungen aus Männer- bzw. Frauensicht – dieses gemeinsame Bild von uns haben wir wenigstens für einige Jahre in „stiller Harmonie" mit uns herumgetragen. In all den Jahren und in all den oft harten und verletzenden (halb-)öffentlichen Auseinandersetzungen mit Männern und Frauen zu diesem Thema gab es für mich immer jemanden, mit dem ein Dialog möglich gewesen zu sein schien: einander zuhören, sich auf die Positionen des anderen einlassen, nachdenklich werden, sich berühren lassen.

Bei den Vorbereitung zur Tagung kam uns dann die Idee, unseren „Dialog" zu sexuellen Gewalterfahrungen von Frauen und Männern zu rekonstruieren. Dabei fiel uns auf, daß wir diesen Dialog bis dahin nie geführt hatten. Wir hatten die Veröffentlichungen des anderen zu diesem Thema gelesen, wir hatten uns auf verschiedene Weise immer wieder mit der Geschlechterfrage aus der jeweils eigenen Perspektive beschäftigt – und waren dabei um „unser" Thema herumgeschlichen, ohne es zu merken. Kurz gesagt, wir waren dabei unserer Wirklichkeitskonstruktion aufgesessen, wir hätten für uns ein Stück Dialog möglich gemacht, der mir in so vielen Zusammenhängen noch immer fehlt. Warum ist dieser Dialog nie zustandegekommen?

Ich habe eine Reihe Antworten oder zumindest Vermutungen zu dieser Frage gefunden wie Angst, wiederum in die einseitige Rolle der Zuhörerin zu kommen, die Unsicherheit, wie weit wir uns gegenseitig Raum geben könnten, mein Wissen um meine Parteilichkeit bezüglich Fragen, die das Geschlechterverhältnis betreffen. Eine Folge meiner Beschäftigung mit struktureller und manifester Gewalt zwischen Männern und Frauen war meine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Geschlechtsrolle und den damit verknüpften Erwartungen. Frau-Sein bedeutet ebenso wie Mann-Sein, sich bestimmten Erwartungen stellen zu müssen, die das Verhältnis von Männern zu Frauen regeln. Wesentliche Teile meines persönlichen Umfeldes gingen mir in dieser Zeit verloren, denn ich war nicht mehr bereit, die mir aufgrund meiner weiblichen Rolle zugedachten Erwartungen zu erfüllen. Meine verschiedenen Versuche, einen – privaten oder politisch-öffentlichen – Dialog zwischen Mann und Frau über die Gewaltaspekte des Geschlechterverhältnisses zu führen, waren eine Erfahrung, die ein Scheitern, zumindest mißglückte Versuche beinhaltete oder wenigstens eine Sprachlosigkeit nach sich zog.

In Sprachlosigkeit endete zunächst auch sehr schnell das Vorhaben, den Dialog mit Hans-Joachim Lenz zu Beginn der Tagung nochmals aufzunehmen. Einen Dialog führen anstelle einer Diskussion austragen, also sich gegenseitig Raum geben, die eigenen Gedanken entwickeln zu lassen, mich von dem, was mein Gegenüber sagt, denkt, empfindet, ansprechen, vielleicht auch anrühren zu lassen: das geht scheinbar nicht ad hoc, sondern braucht Zeit und offenbar einen geschützten Raum. Unter diesen Bedingungen war das Miteinander-Reden dann möglich gewesen. Wesentlich war in der Rückschau das Bemühen, einander zuzuhören, ohne sofort die eigenen Sichtweisen und Positionen ins Spiel zu bringen. Absichtslosigkeit im Hinblick auf die jeweils eigenen Interessen schien außerdem förderlich zu sein. Anders gesagt: der bewußte Verzicht auf Machtausübung scheint etwas möglich zu machen, was „dialogisch" genannt werden kann. Ohne die Bereitschaft, auf Macht bzw. auf deren Ausübung zu verzichten, scheint mir ein Dialog im oben skizzierten Sinne bzw. ein Miteinander-Reden nicht möglich.

Meine Skepsis bezüglich der Möglichkeit eines dialogischen, das heißt machtfreien Miteinanders der Geschlechter, und sei es als etwas, das partiell möglich ist, bleibt indes bestehen. Im Rahmen des öffentlich-politischen Diskurses zwischen Frauen und Männern sind keinerlei Anzeichen zu entdecken, auf eigene Machtansprüche und auf erworbene Besitzstände zu verzichten. Was im privaten Raum möglich sein mag, ist auf gesellschaftlicher Ebene allenfalls als – mehr oder weniger konkrete – Utopie denkbar. „Eine Zukunft für Frauen und Männer" – die Überschrift dieser Tagung impliziert ein gemeinsames Interesse von Frauen und Männern an einer qualitativen Veränderung des Geschlechterverhältnisses, womit – zumindest aus Frauensicht – ein Abbau patriarchaler Machtstrukturen unabdingbar verbunden sein müßte. Dies scheint mir noch in weiter Ferne zu liegen.


Susanne Weissman: Frauen und die Geschichte der Frauenbewegung – subjektive Erfahrungen und Eindrücke – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2000/weissman00_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid