Lernberatung

"Lernen kann man nicht dadurch lernen, dass man über das Lernen abstrakt belehrt wird, sondern dadurch, dass man selbständig oder durch didaktische Vermittlung reflexiv zugängliche Erfahrungen mit dem eigenen Lernen macht"

Aus: Weinert/Schrader: Lernen lernen als psychologisches Problem. In: Enzyklopädie der Psychologie Bd. 4, Göttingen u. a. 1997, S. 312.



Die Auseinandersetzung mit der eigenen Lerngeschichte, den eigenen Lernerfahrungen, bietet eine Möglichkeit, sich der eigenen Lernhaltung und -strategien bewusst zu werden.

Jeder Mensch macht Erfahrungen mit dem eigenen Lernen. Die Menschen, denen das Lernen Schwierigkeiten bereitet, können durch eine professionelle Lernberatung ihr Lernverhalten positiv verändern, Lernschwierigkeiten überwinden und neue Lernstrategien entwickeln.


Was ist Lernberatung?

Lernberatung hilft Lernziele zu erreichen

"Die Lernberatung ist ein prozessbegleitendes Beratungsinstrument während der gesamten Maßnahme. Sie begleitet und unterstützt die Lernenden bei der selbständigen und aktiven Gestaltung ihres individuellen Lernprozesses und bei der Auseinandersetzung mit den von außen - durch die Ausbildungsziele und deren Umsetzung durch die Lehrenden - gesetzten Lernanforderungen sowie mit den Möglichkeilen und Hindernissen des Lernsystems. Lernberatung setzt an den individuellen Ausgangsbedingungen der Lernenden an und befähigt zur Entwicklung von Lernstrategien und zur Auswahl geeigneter Lernmethoden.
Lernberatung baut auf ein Verständnis von Lernen als aktiver, von den Lernenden selbst gesteuerter Prozess auf. Lernen führt zu einer Veränderung der Person und der Umwelt. Die Lernenden sind die Subjekte des Lernprozesses. Sie selbst tragen die Verantwortung für den Prozess und die Ergebnisse des Lernens. Durch entdeckendes Lernen werden Kenntnisse und Einsichten weitgehend selbständig erworben. Neben einem besseren Behalten des Gelernten kommt es zur Ausbildung wirksamer Strategien für die Lösung unterschiedlicher Probleme.

Lernberatung

  • befähigt die Teilnehmer/innen, Ziele und Teilziele für ihren Lernprozess zu formulieren,
  • fördert die Transparenz und die Akzeptanz der von außen gesetzten Lernanforderungen,
  • befähigt zur Auswahl geeigneter Lernmethoden und Lernstrategien.

Lernberatung bezieht sich auf drei Strategien:

  1. Wie geht der/die Lernende selbst mit Lernen um? Wie kann er/sie - unter den gegebenen Rahmenbedingungen - das Lernen selbst optimieren?
    - z. B. durch Veränderung der Lernstrategien, Formulierung realistischer Ziele, Veränderung von Haltungen.
  2. Wie kann der/die Lernende Einfluss auf das Lernsystem nehmen und damit zu seiner/ihrer Weiterentwicklung beitragen?
    - z.B. durch die Bildung von Lerngruppen, Lernpartnerschaften, die Übernahme von Tutorenfunktionen, das Aushandeln von Veränderungen von Lernformen, die Verbesserung der Beziehungen der Lernenden untereinander und zu den Lehrenden.
  3. Wie kann der/die Berater/in zur Veränderung des Lernens/des Lernsystems beitragen?
    - z.B. durch die Veränderung der Gruppenzusammensetzung, den Wechsel der Lernformen, spezielle Angebote zur Lernförderung, Veränderung der Konzeption, Veränderung der Aufgabenstellungen für die Lernenden, Veränderungen der Beziehungen, Strukturen und Kommunikationsformen im Lernsystem.

Aus: bmb+f u. a.: Neue Wege zum Berufsabschluss. Ein Handbuch zur berufsbegleitenden Nachqualifizierung an-und ungelernter (junger) Erwachsener. Bonn u. a. 1999, S. 58f.



Lernprobleme und Lernberatung

Die Lernsituation des einzelnen ist geprägt durch seine aktuelle Lebenssituation und durch seine Lerngeschichte, die ein bestimmtes Selbst- und Weltbild hat entstehen lassen. Aus dem Selbst- und Weltbild, die ein Ergebnis erlebter Er- und Entmutigung sind, und aus der aktuellen Lebenssituation erwachsen unbewußte Handlungssteuerungen, die zum Gelingen oder Mißlingen von Lernen beitragen. Bei erfolgreichem Lernen bedarf es kaum einer Thematisierung dieser unbewußten Handlungssteuerungen, notwendig wird das Aufgreifen dieses Themas dagegen beim Auftreten von Lernproblemen. Dabei muß man zum einen von der Situation des einzelnen und den durch sie gegebenen Bedingungen ausgehen, zu denen sich der einzelne aktuell verhält. Dies ist die synchrone Ebene. Zum anderen wird dieses Verhalten nur verständlich, wenn man die lebensgeschichtlich erworbenen Sichtweisen und Handlungsmuster des einzelnen kennt, also die diachrone Ebene einbezieht.

Als häufig auftretende Lernprobleme werden von den Kursleitern (1) genannt: mangelnde Lernfortschritte, Lernstillstand, Passivität, unzureichende Konzentration, Zuspätkommen, Fehlzeiten, Festhalten an alten Lernformen, negative Selbstbeschreibungen wie ‘Ich lerne das nie!’, Nichtverstehen von Sprachstrukturen. Will man diese Lernschwierigkeiten auf der synchronen Ebene klassifizieren, so lassen sie sich grob in drei Gruppen einteilen, nämlich Lernschwierigkeiten,

  • die in der Persönlichkeit des einzelnen Teilnehmers begründet liegen,
  • die sich aus der Interaktion in der Gruppe ergeben,
  • und die mit dem Lerngegenstand und seiner Vermittlung, also auch der Person des Lehrenden zusammenhängen.

Die Situation mit ihren jeweiligen Bedingungen übt in der Weise einen Einfluß auf das Kursgeschehen aus, daß Teilnehmer wie Kursleiter ihre Sichtweisen und Probleme einbringen, sich also beispielsweise ängstlich oder offen verhalten, leicht oder nur mit Schwierigkeiten Kontakt zu anderen Personen aufnehmen, Arbeitsmaterialien unkritisch einsetzen oder annehmen. Die Situation von Teilnehmern und Kursleitern ist daher nicht als solche präsent, da sie viel komplexer als das Kursgeschehen ist, sondern sie manifestiert sich über konkrete sprachliche und nichtsprachliche Handlungen.

Aus Arbeiten der verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen, insbesondere der Individualpsychologie, und aus der Gruppendynamik geht hervor, daß sich nahezu alle Lernschwierigkeiten letztlich als Beziehungsstörungen äußern, die sich daraus ergeben, daß lerngeschichtlich erworbene Sichtweisen und Handlungsmuster unbewußt, d.h. unreflektiert, auf die aktuelle Lehr- und Lernsituation übertragen werden, und zwar sowohl von den Lernenden als auch von den Lehrenden.

So kann es sein, daß ein Teilnehmer annimmt, er dürfe keine Fehler machen, da er sonst Gefahr läuft, vor der Gruppe bloßgestellt zu werden. Der Hintergrund sind alte Schulerfahrungen: der Lehrer hatte besonders ‘originelle’ Schreibfehler immer vor der ganzen Klasse zum besten gegeben. Die Folge im Kurs ist, daß der Teilnehmer möglichst alle Schreibsituationen vermeidet und seine Stifte und Papiere ‘vergessen’ hat oder betont, wie wichtig ihm das Lesen ist und daß er das doch noch intensiver üben möchte.

Oder es kann sein, daß ein Kursleiter annimmt, ein Teilnehmer beherrsche die Lautsynthese nicht richtig, da er beim Lesen eines so leichten Wortes wie ‘ich’ immer wieder Schwierigkeiten hat. Der Hintergrund des Teilnehmers ist jedoch, daß er sehr große Schwierigkeiten hat, sich als Person mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen anzunehmen. Dies ist dem Kursleiter nicht bekannt, und er bringt immer neue Übungen zur Lautsynthese mit dem Ergebnis, dass das Lesen des Teilnehmers immer schlechter wird.

Wie an dem Beispiel deutlich wird, sind Probleme, die sich auf der synchronen Ebene aus dem Lerngegenstand und seiner Vermittlung zu ergeben scheinen, mit lerngeschichtlichen Erfahrungen besetzt; auf der diachronen Ebene wird deutlich, daß sie eng in Verbindung mit Interaktionsstörungen zwischen Lehrer und Schüler zu sehen sind.



Ziele der Lernberatung

Um diese Verflechtung zwischen der synchronen und diachronen Ebene aufzulösen, bieten sich Beratungsgespräche an, sowohl als Gespräche in der Gruppe als auch als Einzelgespräche (vgl. Beiträge von Meinhardt-Neek, Lindemann, Waldmann). Diese den Lernprozeß begleitenden Beratungsgespräche - zusammengefasst unter dem Begriff Lernberatung - können vielfältige Formen annehmen, verfolgen dabei aber eine Zielsetzung: erfolgreiches Lernen zu ermöglichen.

Das bedeutet: Beratungsgespräche orientieren sich an den Erfordernissen der Praxis, sie sind daher nicht nur Aufarbeitung des Vergangenen, sondern dienen auch immer der Veränderung des Lernverhaltens und des Alltagshandelns. In diesem Sinne ist Lernberatung das Suchen nach Lösungen für Behinderungen und Stillstände im Lernprozeß und für Schwierigkeiten in der Anwendung des Gelernten im Alltag.

Mit Lernberatung werden die Punkte aufgespürt, in denen unbewußt Erfahrungen aus anderen Situationen auf die aktuelle Lehr- und Lernsituation übertragen werden und zu Beeinträchtigungen führen.

Je nach Art der Beeinträchtigung sind unterschiedliche Interventionen notwendig. Manchmal reicht eine Ermutigung, um jemanden in bestimmten Situationen zu neuem Handeln zu befähigen. Zuweilen kann es ausreichen, den Übertragungsirrtum zu erkennen. Ein anderes Mal kann es notwendig werden, zusätzlich zu dem Erkennen herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen und in welchem Gefühlskontext in der Kindheit eine bestimmte Sichtweise und Verhaltensweise erlernt wurde (und dabei zu sehen, dass sie damals sinnvoll war), um die heutige Situation zu erfassen und so die eigenen Möglichkeiten für neue Handlungsschritte zu entwickeln (vgl. Waldmann, Hamann, Lindemann). Lernberatung hat aber auch eine hohe prophylaktische Bedeutung; sie kann ein Scheitern des neuen Lernprozesses verhindern. Beratung wird in einem solchen Fall nicht nur als Gespräch zur Lösung von Problemen verstanden, sondern es geht um die Integration von Beratungselementen in die allgemeine Vermittlungsarbeit; dies geschieht z.B. in der Form regelmäßiger ‘Gespräche über Lernen’.

Am sinnvollsten lassen sich regelmäßige "Gespräche über Lernen" gleich zu Kursbeginn einführen. Dabei kommen die Lernbedingungen, Lernprobleme, Lernerfolge und Konflikte, die sich eventuell in der Gruppe ergeben, zur Sprache. Die Zielsetzung dieser Gespräche ist es, die Selbst- und Fremdwahrnehmung zu erhöhen, schrittweise das Selbstverstehen, gegenseitiges Verstehen und das Verstehen von Prozessen zu ermöglichen, um eine positive Lernatmosphäre zu schaffen, in der partnerschaftliches Arbeiten und individuelles Lernen möglich sind. Beratungsgespräche haben aber nur dann einen Sinn, wenn sie nicht zur Flucht in eine Auseinandersetzung mit sich selbst werden, sondern Ergebnisse mit Handlungskonsequenzen für den Lernprozess hervorbringen. Bei der Durchführung von Gesprächen über Lernen gilt es, ganz bestimmte Bedingungen zu berücksichtigen. Die Teilnahme muß für alle Beteiligten freiwillig sein. Die Gespräche müssen nach bestimmten Regeln ablaufen: Es gibt eine zeitliche Begrenzung; jeder entscheidet für sich, was er einbringen möchte; Ergebnisse werden gemeinsam festgehalten.

Gespräche über Lernen eröffnen eine Möglichkeit, einer Integration vonLehren und Beraten näher zukommen. Welche weiteren Formen der Integration realisierbar sind, hängt zum einen davon ab, welche beraterischen Qualifikationen vorhanden sind, zum anderen aber auch davon, inwieweit das Geschehen im Kurs reflektiert wird, inwieweit also die Anteile des Beraters und derTeilnehmer am Lehr- und Lernprozeß in der Gruppe erkannt und transparent gemacht werden können. Ein solcher Schritt würde verhindern, daß die Unterscheidung zwischen Beratung und Unterricht nur an den Formen festgemacht wird: Ein Einzelgespräch wäre als Beratung akzeptiert, ein Gespräch in der Gruppe wäre mit Unterricht gleichgesetzt.

Entscheidend für das Gelingen von Beratungsgesprächen ist die Qualifikation der Kursleiter. Neben theoretischem Wissen und dem Verfügen über Beratungsmethoden ist für den Kursleiter notwendig, die eigene Lerngeschichte aufgearbeitet zu haben. Sonst läuft er Gefahr, eigene Handlungsprinzipien und Beziehungserwartungen unbewußt auf die Teilnehmer zu übertragen, bzw. er kann nicht erkennen, welche Erwartungen, die eigentlich anderen Personen oder Zusammenhängen gelten, von den einzelnen Teilnehmern auf ihn oder die Kursgruppe übertragen werden. Dies können ganz unterschiedliche Dinge sein, wie z. B. die Angst, beim Fehlermachen bestraft zu werden, die Erwartung einen Arbeitsplatz vermittelt zu bekommen oder endlich einen Freund bzw. eine Freundin zu finden.

Das Bedürfnis der Kursleiter nach dem Erwerb von Beratungskompetenz und die Forderung der Erwachsenenbildungseinrichtungen nach entsprechend qualifizierten Mitarbeitern steigt ständig. Ausreichende Fortbildungsmöglichkeiten gibt es bisher nicht, und auch die Bezahlung bzw. der Status der Kursleiter als Honorarkraft stehen in keinem angemessenen Verhältnis zur hohen Qualifikationsanforderung.



Grenzen der Lernberatung

Gespräche, die im Rahmen von Lernberatung geführt werden, haben ihren Ausgangspunkt im Lernprozeß, und die Ergebnisse sollten auch Handlungskonsequenzen für das Lernen oder die Anwendung des Gelernten im Alltag haben.

Eine weitere Grenze für die Lernberatung ist gegenüber der Therapie zu ziehen. D.h., wenn das Ausmaß der Schädigung der Persönlichkeit des Teilnehmers so wert geht, daß über die Mittel der Beratung - Verstehen und Erleben - kein Lernen möglich ist, bedarf er therapeutischer Hilfe.

Bei all den Möglichkeiten, die in der Anwendung von Beratung stecken, darf nicht übersehen werden, daß Beratung ein persönlich-pädagogisches/andragogisches Verfahren ist, das dazu dient, den einzelnen handlungsfähiger zu machen. Es darf nicht die Illusion entstehen, mit Beratung könne man die gesellschaftlichen Bedingungen, wie z.B. Arbeitslosigkeit, verändern, die auf die persönliche Problematik des Teilnehmers einwirken. Es ist außerordentlich wichtig, daß in Lehr- und Beratungsangeboten der Erwachsenenbildung gerade jene objektiven gesellschaftlichen Bedingungen als Bedingungen der Problematik des einzelnen bewußt gemacht werden, d.h., es ist wichtig, daß sich die Mitarbeiter in der Erwachsenenbildung dieser Tatsache bewußt sind, damit sie ihre Bildungstätigkeit realistisch einschätzen. Für die Teilnehmer kann es fatale Folgen haben, wenn ihnen der Zusammenhang zwischen der persönlichen Situation und den gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen nicht bewußt ist. Sie deuten dann möglicherweise die Schwierigkeit, einen Arbeitsplatz zu finden, als ein persönliches Scheitern. Dadurch besteht die Gefahr, daß gesellschaftlich bedingte Existenzbedrohungen auf persönliche und Weiterbildungsprobleme reduziert und damit die Politiker aus ihrer Verantwortung entlassen werden.

Elisabeth Fuchs-Brüninghoff



Anmerkungen
(1) Der Lese- und Schreibfreundlichkeit halber wird im Text die maskuline Form "Kursleiter" und "Teilnehmer" verwendet.
(2) vgl. dazu: Tymister, H.J.: Gefährdungen individualpsychologisch- pädagogischer Beratung durch Psychotherapie? - Gedanken und Erfahrungen zur Abgrenzung der Beratung von der Therapie. In: Mohr, F. (Hg.): Zur Patienten-Therapeuten-Beziehung (V.Delmenhorster Fortbildungstage für Individualpsychologie). München 1986, S. 84-86.

Aus: Informationen Alphabetisierung und elementare Qualifikationen, Heft 4, Jg. 1987. S. 1ff.