Lernwerkstatt

Die Institution

Das Rotkreuz-Institut Berufsbildungswerk im DRK Berlin GmbH ist eine Einrichtung der beruflichen und sozialen Rehabilitation. Sie steht jungen Erwachsenen offen, die wegen einer vorhandenen oder drohenden Behinderung in ihrer beruflichen und sozialen Lernfähigkeit beeinträchtigt sind. In dieser Einrichtung haben wir es im Rahmen unserer Berufsschularbeit mit einem äußerst heterogenen Teilnehmerkreis zu tun. Die Erscheinungsformen der Behinderungen - insbesondere im psychischen Bereich - werden komplexer. Häufig genug befinden sich Nichtleser und -schreiber, die als lernbehinderte oder verhaltensgestörte Menschen eingestuft wurden, mit Studienabbrechern, die mit Borderliner-Symptomen oder autistischen Zügen aufgenommen wurden, in einer Lerngruppe. Die Lerngruppen/Klassen bestehen im Durchschnitt aus zehn Teilnehmern, für die berufsfeld-spezifischer Teilungsunterricht angeboten wird. Diese Institution mit den organisatorisch-strukturellen Vorgaben, dem Personenkreis und den Mitarbeitern ist der Rahmen zur Entwicklung unseres Konzepts. Bausteine zum selbstbestimmten Lernen, die ich Ihnen heute in dieser Form vorstelle, sind in Auseinandersetzung mit den Menschen dieser Institution entstanden. Wir begreifen diese Arbeit jedoch als eine nicht abgeschlossene Entwicklung, im Grunde haben wir erst damit begonnen.


Der Weg zum erweiterten Lernbegriff/das Anforderungsmodell

Die Veränderung des Teilnehmerkreises hat uns Mitarbeiter immer wieder an die eigenen Grenzen geführt, so auch an die, zu erkennen, dass das vertraute pädagogische, methodisch-didaktische Handwerkszeug nicht mehr ausreicht.

Die höchst unterschiedlichen Lernvoraussetzungen des Teilnehmerkreises sind von vielen einzelnen Faktoren der persönlichen Lebens- und Lerngeschichte geprägt. Für die Unterrichtsplanung bedeutet das, unser Handwerkszeug auf das Umgehen mit offenen Situationen zu überprüfen und zu entwickeln. Auf dieser Ebene sind wir jedoch nicht nur mit der Begrenztheit unseres Handwerkszeugs konfrontiert worden. Zur Disposition stand und steht unser Lern-/Lehrbegriff. In den nachfolgenden Schaubildern haben wir versucht, unsere Leitgedanken zum Lehr-/Lernprozess zusammenzufassen.

Kernstück unseres Konzepts ist der seit mehreren Jahren währende Versuch, die Brücke zwischen dem in der beruflichen Bildung geforderten Lernen von fachlichen Zielen und Inhalten zur ebenso geforderten Beziehungs-/Lern-/Veränderungs-Meinungskompetenz zu schlagen.

    Fachliches Lernen findet nicht neben, sondern gleichzeitig mit methodisch-strategischem, sozial-kommunikativem und selbsterfahrendem sowie selbstbeurteilendem Lernen statt.

Ein Beispiel soll diese These erläutern. Gemeinsam mit Ausbilderinnen aus dem Berufsfeld Hauswirtschaft wurde ein Anforderungsmodell entwickelt, an dem Förderung von selbstbestimmtem Lernen ansetzen könnte. Teilnehmern bereitet es häufig erhebliche Probleme, Arbeitsmittel bezogen auf eine Aufgabe - ein Ziel - fachgerecht auszuwählen. Dass eine Schere zum Schneiden von feinen Schinkenwürfeln nicht geeignet ist, kann nicht einfach vorausgesetzt werden, wie uns ein Beispiel zeigte. Wie ich dieses Handwerkszeug benutze, dass die Tätigkeit des Schneidens mit einem entsprechenden Messer auszuführen ist, dass der Vorgang des Ausführens einzelner Schritte bedarf und auf das Ziel hin genau abgestimmt sein muss, ist für viele Teilnehmer ein komplexer Lernvorgang.

Das fachliche Anforderungsmodell hat uns gleichzeitig mit der Frage konfrontiert: Welche Kompetenzen muss ein Teilnehmer mitbringen, um sich in diesem Modell zurechtfinden zu können? Der Lernbegriff, der sich sowohl an der Zielvorgabe des zu erlernenden Berufes als auch an der persönlichen Ausgangssituation orientiert, ist bestimmend für die Ausrichtung unseres inhaltlich-methodischen Weges. Ziele des Weges sind die weitgehende Stabilisierung von selbstbestimmtem Lernen und die Übernahme von Eigenverantwortung. In diesem Kontext definieren wir die Kompetenzen, die zur Orientierung in diesem Modell nötig sind:

    Beziehungskompetenz:Welche Beziehung hat der TN

  • zu seiner Tätigkeit ?
  • zu seinem Arbeitsmittel?
  • zu seinem Ziel?

    Lernkompetenz:
    Über welche Techniken der Selbstorganisation verfügt der Teilnehmer?Welche Lerntechniken und -methoden sind vorhanden, welche sollen als sinnvoll erfahren und aufgebaut werden?

    Veränderungskompetenz:
    Welche Voraussetzungen sind vorhanden, um sich auf (Ver)Änderungen im Berufsalltag einzulassen und damit umzugehen?

    Meinungskompetenz:
    Welche Haltungen, welche Sichtweisen zum Erreichen von Lernzielen kann der Teilnehmer bereits einnehmen und vertreten? Welche sollen erfahren und gelernt werden?

Ein weiterer Baustein in unserem Konzept ist die Entwicklung von Angebotskatalogen für das Wie des Lernens bezogen auf die fachlichen Inhalte der jeweiligen Berufsfelder. Lernen im Berufsfeld findet an Zielvorgaben statt, denen der einzelne Lerner sich anzupassen hat, wenn er einen Berufsabschluss erreichen will. Der Weg zum Erreichen dieser Vorgaben ist nicht von vornherein festgelegt, er ist somit eine Gestaltungsgröße für jeden Teilnehmer. Diese persönlichen Gestaltungselemente transparent und verfügbar zu machen, ist ein wesentlicher Schritt zur Steigerung der Eigenverantwortung und zum selbstbestimmten Lernen. Als Beispiel ein Angebotskatalog, den wir mit Mitarbeiterinnen - ebenfalls aus dem Berufsfeld Hauswirtschaft - entwickelt haben.


Angebotskatalog - fachbezogene Gestaltungsmöglichkeit des persönlichen Lernweges

Förderschwerpunkte im Berufsfeld Hauswirtschaft

  • Wie strukturiere ich Arbeitsabläufe?
  • Wie lerne ich, Mengen, Maße und Gewichte einzuschätzen und zu benutzen?
  • Wie lerne, ich meine Zeit einzuteilen und der Aufgabe entsprechend zu planen und zu handeln?
  • Wozu brauche ich welche Arbeitsmittel?
  • Wie setze ich diese sinnvoll ein?
  • Wie lerne ich, fach-/sachgerecht mit der unterschiedlichen Beschaffenheit von Lebensmitteln umzugehen?
  • Wie gehe ich mit vorgegebenen Maßstäben um, die zur Qualitätsüberprüfung meiner Arbeitsergebnisse gebraucht werden?



Die Lernwerkstatt als Rahmen

Die Arbeit mit einzelnen Schwerpunkten dieses Bausteins, der im wesentlichen auf die Anwendung des Anforderungsmodells ausgerichtet ist, gibt uns als lehrendes Personal genauere Hinweise darauf, ob und welche Hilfestellungen zur Unterstützung der Lernkompetenzen gegeben werden können. Abschließend sei noch kurz darauf hingewiesen, dass wir uns für die Umsetzung und Weiterentwicklung der beschriebenen Bausteine im Förderkonzept den Rahmen einer Lernwerkstatt geschaffen haben. Wir haben uns für den inzwischen historischen Begriff aus mehreren Gründen entschieden. Für uns ist die Lernwerkstatt ein Ort

  • zur Reflexion, Zusammenführung und Fortentwicklung konzeptioneller Ansätze für Fördermaßnahmen
  • des Austausches von unterschiedlichen Lernerfahrungen und persönlichen Lernkonzepten
  • des Ausprobierens von offenen Lernformen mit dem Ziel, die persönlich adäquate Lernform zu finden
  • zur Entwicklung und Begleitung von Lernleitfäden für die einzelnen Teilnehmer.

Mit dem Gedanken des Werkstattcharakters von Lernprozessen möchte ich abschließen und an den Ausgangspunkt zurückkehren. Der Rahmen ist vorgegeben durch die Institution, die Ausbildung in mehreren Berufsfeldern anbietet. Die Wege zum Erreichen des Ausbildungszieles so zu begleiten, dass die größtmögliche Gestaltungsfreiheit zur Übernahme von eigenverantwortlichem und damit erfolgreichem Lernen führt, ist eine lohnende Aufgabe - für Mitarbeiter und Teilnehmende.

Adelgard Steindl