Die Zeitschrift „Magazin der Erfahrungsseelenkunde“ ist eine der ersten psychologischen Zeitschriften, in denen Fallgeschichten misslungenen Lernens, abweichenden Lernens, von Grenzerfahrungen und zum Thema Selbst – bzw. Fremdbeobachtung in biographischer Perspektive dargestellt werden. So wird zum Beispiel das Leben von Taubstummen intensiv dargestellt, genauso wie Sprachstörungen und Beispiele psychischer Pathologie und sozialer Devianz. Es ist die erste empirische Bestandserhebung der Schattenphänomene, die mit der „Aufklärung“ auch zum Gegenstand der Selbstaufklärung gemacht werden müssen. Es gibt einen Blick „auf das lernende Subjekt in der Spätaufklärung" (Petersen 2012, 79) frei.

Die Zeitschrift, die „mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde“ wie es auf dem Klappentext hervorgeht, wurde von Karl Philipp Moritz (1756-1793) und Salomon Maimon (1753-1800) in enger Zusammenarbeit mit Moses Mendelssohn (1729-1786) herausgegeben. Sie basierte im Wesentlichen auf der Zusendung von Fallgeschichten aus dem deutschsprachigen Gebiet, die dann nach einer zeittypischen Klassifizierun in Seelennaturkunde, Seelenkrankheitskunde, Seelenzeichenkunde und Seelendiätik unterteilt wurden. Die Zeitschrift wurde durch Übersetzungen auch in Frankreich und England populär und unterstützte dort die Weiterentwicklung der empirischen Psychologie.

Einen Eindruck von der Vielfältigkeit der Fallgeschichten vermittelt das hier beispielhaft aufgeführte Inhaltsverzeichnis im 7. Band des Dritten Stückes. Die Fallgeschichten waren:

  • Aus dem Tagebuch eines Selbstbeobachters
  • Über Selbsttäuschung
  • Fortsetzung des Tagebuchs
  • Mystische Briefe des Herrn von F.
  • Über die Mystik
  • Einige Beispiele von Geistes- oder Gedächtnißabwesenheit. Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde von Herrn van Goens
  • Grundlinien zu einem Gedankenperspektiv
  • Konfessionen der Madame J.M.B. de la Mothe Guion, aus ihrem Leben, welches von ihr selbst beschrieben ist (Nettelbeck/Nettelbeck 1986, Bd. 10, 304)

Katja Petersen beschreibt den Stellenwert der Zeitschrift aus einem erwachsenenpädagogischen Blickwinkel, wie folgt:

„Moritz zeigt dem Leser, wie die biographische Menschen- und Selbstbeobachtung zum Instrument für einen emanzipatorischen Umgang mit der spannungsgeladenen, ambivalenten Existenz als selbstbestimmter und freier Mensch auf der einen und sozial sowie ständisch gebundener Bürger auf der anderen Seite werden kann… Moritz Programmatik der Rettung aus derartigen Widersprüchen und damit verbundenen Problemen beinhaltet drei Perspektiven, in denen sich das Individuum schulen soll, um die Gelassenheit einer beobachtenden Seelenruhe zu erreichen: die Selbstbeobachtung, die Fremdbeobachtung und die Objektivierung.“ (Petersen 2012, 76)

Literatur:

Moritz, Philipp Karl (1783): Magazin der Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Berlin; unter: http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/magerfahrgsseelenkd/magerfahrgsseelenkd.html (12.12.2014)

Nettelbeck, Petra und Uwe (Hrsg.) (1986): Karl Philipp Moritz. Die Schriften in Dreißig Bänden. Nördlingen

Petersen, Katja (2012): Das Lernsubjekt in der Spätaufklärung. Der Widerspruch als Lernanlass in Karl Philipp Moritz‘ „Magazin der Erfahrungsseelenkunde“, in: REPORT, Heft 3, S.69-81

Petersen, Katja (2012): „Denn keine grössere Quaal kann es wohl geben, als eine gänzliche Leerheit der Seele“ – Karl Philipp Moritz‘ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als Bildungsmedium Erwachsener im späten 18. Jahrhundert (Dissertation, im Erscheinen)

Internetquelle:

Kurzbiografie von Karl Philipp Moritz, unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Philipp_Moritz

 

 

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Klaus Heuer