Einleitung:

Rudolf Zacharias Becker versuchte als Volksschriftsteller die neuen, durch die Aufklärung entstandenen, Ziele nicht gegen sondern mithilfe der Kulturtraditionen des Volkes durchzuführen. Leitthema seiner Schriften war die Beherrschung der Natur durch die Vermittlung naturwissenschaftlicher Theorieansätze, durch einen zweckbewußten Umgang mit den Arbeitsmitteln und einer besseren Arbeitsdisziplin. Dafür bediente er sich des Rahmens eines fiktiven Dorfes mit dem Namen Mildenheim und einer Hauptfigur mit dem Namen Wilhelm Denker, der in aufgeklärter Vorbildlichkeit handelte. Zur Vermittlung benutzte er episodenhafte Geschichten mit exemplarischem Charakter, die oft auch illustriert waren.  Das Noth- und Hilfsbüchlein war auch dank der Verbreitung mit Unterstützung der Obrigkeit weitläufig bekannt und gehörte zur Standardlektüre des einfachen Volkes.

Quelle:

„Wer sein Gewissen verwahren will, muss es in solchen Fällen machen wie der berühmte Doctor Brübier in Frankreich that. Dieser wurde zu einem Edelmann, der am hitzigen Fieber krank lag, aufs Dorf gerufen, und kam zu spät. Es war schon alles zum Begräbnis fertig; nur sollte der Leiche, wie es bey vornehmen Leuten geschieht, erst vom Doctor der Bauch aufgeschnitten werden, um zu sehen, was dem Verstorbenen eigentlich gefehlt habe. Aber zwey katholische Priester, welche in der Kammer, wo die Leiche stand, wachten, um die gewöhnlichen Gebete dabey zu verrichten, fiengen an sich darüber zu streiten, welcher von beyden sie begraben und das Begräbnisgeld bekommen solle? Da gieng der Doctor hinein und redete ihnen zu, daß sie ruhig seyn möchten. Bey der Gelegenheit sah er auch nach dem Verstorbenen und fand, daß er kein recht todtenmäßiges Aussehen hatte. Sogleich ließ er ihn in ein warmes Bett legen, und setzte ihm Schröpfköpfe auf die Brust zwischen die Schultern und auf die Dickbeine – und schröpfte diese Theile. Den ganzen Leib ließ er mit groben gewärmten und mit Wacholderbeeren durchräucherten Tüchern reiben, und beym Reiben den Bauch sanft nach der Brust zu drücken. Da es noch nicht helfen wollte, legte er Spanisch-Fliegen-Pflaster hinter die Ohren. An die Füße ließ er gewärmte Ziegelsteine legen, und die Fußsohlen mit Bürsten reiben. Nach und nach fieng der Edelmann wirklich an, wieder Zeichen des Lebens von sich zu geben. Nun hielt man ihm heißes Brod unter die Nase, und goß ihm etliche Löffel warmen spanischen Wein ein. Da fieng er an, zu schlurfen und that die Augen auf, die man, so wie die Schläfe, mit Wein angestrichen hatte. Er erzählte nun alles, was zwischen den beyden Priestern vorgefallen war, welches er in der Ohnmacht gehört hatte, ob er gleich weder reden, noch ein Glied regen konnte. Der Arzt stellte auch seine Gesundheit wieder her, so daß er noch ganzer zehn Jahre lebte....

Und solcher Exempel könnte man wohl hundert anführen, welche christliche Ärzte und Obrigkeiten der Wahrheit gemäß aufgezeichnet und zur Warnung bekannt gemacht haben: damit nicht der Mann an seinem Weibe, das Weib am Manne, die Eltern an den Kindern, die Kinder an den Eltern, oder Freunde an den Freunden durch Nachlässigkeit bey dem Begraben zu Mördern werden.

Hier war die Nummer aus und der Herr Pfarrer hörte auf zu lesen, und sprach noch dieses oder jenes über die Sache. Einige der angesehensten Hausväter erboten sich auch gleich; wenn der gnädige Herr den Tischler und die Todtenfrau bey einem Doctor von der rechten Beschaffenheit des Sterbens unterrichten ließe, so wollten sie auch mit gehen, weil sie sich vor keinem Todten scheuten: und wollten dann selber mit drauf sehen, daß in der Gemeinde kein großes Unglück wieder geschehen möge.“

Aus: Becker, Rudolf Zacharias (1788): Noth- und Hilfsbüchlein für Bauersleute oder lehrreiche Freuden- und Trauergeschichten des Dorfes Mildenheim, für Junge und Alte geschrieben 1788/1798. 2 Bd.. Nachdruck 1980, S.18-20.

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Klaus Heuer