DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Jugend und Politische Bildung

Benno Hafeneger
Dr. Benno Hafeneger ist Professor für Pädagogik an der Universität Marburg.

Kommt der Politischen Bildung die junge Generation abhanden? - Der Beitrag mahnt Klärungsbedarf und gründliches Nachdenken an hinsichtlich der Gründe für diese Entwicklung, vor allem aber über die Frage, welche Lernangebote und Erfahrungen Gesellschaft und Politik jungen Leuten zur Verfügung stellen wollen, um sie für die Weiterentwicklung einer partizipativen Demokratie zu interessieren und zu begeistern.

Die Überschrift deutet auf einen breiten Zusammenhang hin, der hier nur in einem Aspekt thematisiert werden soll. Es geht um die Beobachtung, daß die Teilnahme von Jugendlichen und jungen Erwachsenen an den Angeboten der organisierten Politischen Bildung abnimmt; mit dieser Entwicklung wird Geldgebern, Trägern und Pädagogen viel Material zum Nachdenken gegeben. Auch wenn verläßliche Daten nur begrenzt vorliegen, so lassen die entsprechenden Hinweise, Beobachtungen und Trends doch erste Einschätzungen und weiterführende Überlegungen zu. Letztere sind geradezu zwingend, wenn diese Ziel- und Altersgruppe aus der organisierten Politischen Bildung nicht sukzessive, kaum öffentlich wahrgenommen und hinter dem Rücken der Anbieter gänzlich verschwinden soll.

Beispiel: Hessisches Bildungsurlaubsgesetz

Ausgehend vom Ende des Jahres 1995 vorgelegten Erfahrungsbericht zum Hessischen Bildungsurlaubsgesetz es regelt die Freistellung zur politischen Bildung und beruflichen Weiterbildung) für die Jahre 1993/94 läßt sich exemplarisch für ein Bundesland das Verschwinden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Politischen Bildung skizzieren. In dem Bericht des zuständigen Hessischen Ministeriums für Frauen, Arbeit und Sozialordnung wird u. a. mitgeteilt, daß 1994 insgesamt 2.205 Veranstaltungen durchgeführt wurden; das war ein Rückgang gegenüber 1992 um etwa 500 (- 19%). Einen Rückgang gab es erstmals bei den Trägern der Erwachsenenbildung, und der bereits in den Vorjahren (seit 1988) festgestellte Rückgang bei Trägern aus dem Bereich der Jugendbildung hat sich 1993/94 weiter fortgesetzt; von ihnen wurden nur noch 365 Veranstaltungen (= 16%) durchgeführt. Die Volkshochschulen waren 1994 die größte (mit 700 Veranstaltungen) und die Gewerkschaften die zweitgrößte Trägergruppe (mit 625 Veranstaltungen). Der Anteil der Veranstaltungen zur politischen Bildung sinkt weiter; er lag 1993 bei 66% und 1994 bei 59%; demgegenüber steigt der Anteil der beruflichen Weiterbildung kontinuierlich an, er lag 1994 bei 41%. Insgesamt nahmen 1993 26.767 (= 1,2%) und 1994 23.079 (1,1%) Anspruchsberechtigte an Bildungsurlaubsveranstaltungen teil; dabei liegt die Zahl der TeilnehmerInnen seit 1988 zwischen 26. 500 und 30.000. Ein Rückgang ist vor allem bei den Trägern der Jugendbildung festzustellen. Zur Altersverteilung heißt es in dem Bericht: Im Gegensatz zu dem vorangegangenen Berichtszeitraum kommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer 1993/94 zu 32,2%/31,2% aus der Altersgruppe der 26- bis 35jährigen. Damit wurden erstmals die bis zu 25jährigen mit einem Anteil von 31,3% bzw. 29,0% aus ihrer führenden Position verdrängt; eine Entwicklung, die mit dem Rückgang der durchgeführten Veranstaltungen bei den Jugendbildungsträgern korrespondiert. Der Rückgang der Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gruppe der bis zu 25jährigen zeichnete sich seit 1988 ab. 1992 haben 5.265 Personen dieser Altersgruppe weniger Bildungsurlaub als 1988 in Anspruch genommen, 1994 waren es im Vergleich zu 1988 8.880 Personen weniger. Danach hat sich die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Altersgruppe innerhalb von 6 Jahren um die Hälfte reduziert (S. 30). Für die Freistellungs-, Weiterbildungs- und Bildungsurlaubsgesetze anderer Bundesländer, die mit dem hessischen Gesetz nur begrenzt vergleichbar sind, werden für die Jahre 1993 oder 1994 folgende Teilnahmequoten ausgewiesen: Berlin (1994) 1,25%; Bremen (1994) 4,0%; Niedersachsen (1994) 2,11%; Nordrhein-Westfalen (1993) 0,7%; Schleswig-Holstein (1993) 1,4%; Rheinland-Pfalz (Juli 1993/Ende 1994) 1,5%. Die Auswertung dieser Gesamtquoten wie auch von Daten der Träger nach der Kategorie Alter bleiben abzuwarten. Es gibt aber über das hier vorgestellte Beispiel von Hessen hinaus Signale und Hinweise, daß der Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen rückläufig ist, daß sie in den organisierten Angeboten und bestehenden Instrumenten der Politischen Bildung immer weniger vertreten sind.

Beim Nachdenken über die Folgen bzw. den Stellenwert dieser Entwicklung soll zunächst historisch vergewissert auf folgende Überlegung hingewiesen werden: Außerschulische Politische Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene hat in der Geschichte der Bundesrepublik traditionell vor allem die programmatische Zielsetzung, daß sie zur Interessenwahrnehmung und Partizipation an Demokratie befähigen soll. Sie wurde in der Nachkriegsgeschichte zu einem bedeutenden Lern-Instrument für die nachwachsende Generation, um sie für die Gestaltung und Entwicklung von Demokratie zu gewinnen und zu ermuntern sowie zur Abwehr demokratiegefährdender Tendenzen zu qualifizieren. Politische Bildung ist somit als Reservoir zu verstehen, in dem junge Leute angeregt werden und Mut schöpfen, kollektive Akteure einer aufgeklärten Bürgergesellschaft und politischen Öffentlichkeit zu sein. Die Teilnahme bzw. die Instrumente scheinen - wenn auch auf bescheidenem Niveau - bis in die achtziger Jahre tragfähig gewesen zu sein und nun aus mehreren Gründen brüchig zu werden und ratlos zu machen. Diese Entwicklung gilt es wissenschaftlich noch genauer zu untersuchen und einzuschätzen; hier sollen einige erste Überlegungen angemerkt werden.

Einige Ursachen

Die Ursachen für die angedeutete und sich möglicherweise fortsetzende Entwicklung sind vielfältig; die Auseinandersetzung mit ihnen muß sich m.E. vor allem auf drei Aspekte beziehen:

1. Zunächst ist die allgemeine Veränderung - mit ihren spezifischen, differenzierten Auswirkungen - der Lebensbedingungen und -verhältnisse von Jugendlichen zu berücksichtigen. Hierzu liegen umfangreiche Erkenntnisse aus der Jugendforschung vor; die wiederholt beschriebene veränderte, verlängerte Jugendphase (Stichworte: Differenzierung, Individualisierung, Pluralisierung) in Familie, Schule, Arbeitswelt und Freizeit beinhaltet u. a.:

Diese knappen (unvollständigen) Hinweise zu veränderten Erfahrungswelten, Dilemmata und Anforderungen prägen Mentalitäten und Bewußtsein von jungen Menschen. Dabei ist das zentrale Merkmal, daß ihnen Sinn, Selbstdeutungen, Muster von Lebensführung und Identitätserprobungen im Prozeß des Erwachsenwerdens (der Adoleszenz) nicht mehr von traditionellen Institutionen (von der Familie bis zur Kirche) abgenommen werden, sondern daß dieser Prozeß nach innen verlagert wird; sie sind dafür selbst zuständig. Gleichzeitig sind Selbstzuständigkeit und freie Entscheidungen der Subjekte von institutionalisierten Vorgaben - des Arbeitsmarktes, der gesellschaftlichen Desintegrationsprozesse, der Familienkonstellationen, des Bildungs- und Ausbildungssystems und des Sozialstaats - begrenzt und abhängig.

2. Dies sind einige, mehr allgemeine Hinweise zur veränderten Lebensphase der jungen Generation mit ihren empirisch noch genauer zu klärenden Auswirkungen (bezogen auf Zugänge, Motive, Eintrittsalter) für die organisierte Politische Bildung. Die niedrigen Teilnahmequoten an den genannten Freistellungsgesetzen verweisen aber auch auf Probleme und Grenzen der bzw. mit den gesetzlichen Instrumente(n) selbst. Hier sind hervorzuheben: die prekäre Arbeitsmarktsituation (anhaltende Massenarbeitslosigkeit, Rationalisierungsdruck, Deregulierung), die viele Anspruchsberechtigte daran hindert, ihren Rechtsanspruch einzulösen; Freistellungsprobleme, ablehnendes Arbeitgeberverhalten und mögliche Rechtsstreitigkeiten; zurückgehende Bezuschussung (Ausstattung) der Träger infolge der Sparpolitik der öffentlichen Haushalte; niedrige Zahl der Veranstaltungsangebote; fehlende offensive Werbung durch Politik und Träger wie in der innerbetrieblichen Durchsetzung; mangelhafte Öffentlichkeit und marginale Bedeutung der Gesetze. Darüber hinaus kann aufgrund fehlender Erkenntnisse nicht beurteilt werden, welche Lernerfahrungen in und mit der Politischen Bildung gemacht werden. Zu fragen wäre u. a., inwiefern die Erfahrungen mit bzw. das Curriculum (Inhalte, Prozesse, Pädagogen/Teamer, andere TeilnehmerInnen) in der Politischen Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene als nützlich, interessant, anregend, spannend, wissenswert erlebt, eingeschätzt und (werbend) weitergegeben werden. Weiter ist darauf hinzuweisen, daß Bildung insgesamt - trotz aller Sonntagsreden über die Bedeutung der Qualifizierung des Humankapitals - politisch kaum Konjunktur hat, daß sie kaum ein gesellschaftliches Zukunftsprojekt (für das Lernen sich lohnt) ausweisen kann und daß Investitionen und öffentliche Verantwortung eher rückläufig sind.

3. Es liegen bisher keine wissenschaftlichen Kenntnisse zu veränderten Lernmotiven und den Präferenzen von Lernformen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor. Zu klären wäre u.a., ob neben den dominierenden Instrumenten - Kurs, Seminar/Kurzzeitpädagogik - andere Lernformen interessant und wünschenswert sind oder eher nachgefragt würden. Dabei ist von der Erkenntnis auszugehen, daß junge Leute kaum für fremde bzw. ihnen fremd und äußerlich erscheinende Interessen und Angebote - als Strategie des Um-zu-Lernens - zu motivieren sind. Begriffe wie Selbstzuständigkeit und Subjektivierung versuchen, als Aspekte der kulturellen Modernisierung von Jugend und deren Lebenskonzept, die veränderte Rezeption der Welt zu beschreiben; danach müssen Jugendliche sich (gezwungenermaßen) selbst die Welt zurichten und in einem inneren Dialog (Dauerselbstgespräch) fragen, was das denn mit ihnen zu tun habe. Wenn diese Einschätzung zutrifft, muß sie Folgen für die Bedürfnisse und Motive von Lernen und für die Politische Bildung haben. Vielleicht haben sich die Bildungsbedürfnisse und -motive auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse so pluralisiert und individualisiert, vielleicht ist Politische Bildung auf einem konkurrenten Markt den schnellebigen (modischen) Zeitverwendungsformen so unterworfen, daß die derzeitigen organisierten Angebote, Formen und Instrumente viele junge Menschen - bei gleichzeitig hoher Sensibilität, Aufmerksamkeit und großem Interesse an Politik - nicht mehr erreichen und es ihnen an Attraktivität fehlt.

Klärungsbedarf

Die knappen Hinweise deuten an, daß Politik, Wissenschaft und Träger über Politische Bildung für junge Leute gründlich nachdenken müssen. Die empirischen Erkenntnisse und erklärenden Hinweise der letzten Jahre über Parteienverdrossenheit, Nichtwahlverhalten und antidemokratische Tendenzen sind weitere Argumente für die notwendige Nachdenklichkeit. Zu klären ist insbesondere zweierlei:

Die Auseinandersetzung mit den veränderten Wahrnehmungsweisen, eigensinnigen Verlaufsformen von Lernprozessen, -motiven und -formen betont in neuer und radikaler Weise den Subjektbezug und ist Voraussetzung für das Nachdenken und den Dialog, die Klärung des Reformbedarfs hin zu den richtigen und notwendigen Angeboten und Instrumenten. Wenn dies nicht gelingt, wird der Politischen Bildung die junge Generation möglicherweise - tendenziell, von kleiner werdenden Gruppen abgesehen - abhanden kommen. In der Nachkriegsgeschichte hat die Politische Bildung wiederholt ihre inhaltliche und strukturelle Lernfähigkeit bewiesen. Es bleibt zu hoffen, daß ihr dies auch diesmal gelingt, weil es um die Zukunft eines - so nach wie vor die Unterstellung - biographisch und politisch prägenden Lernortes geht. Als Orte und Zeiten des gemeinsamen und experimentellen Nachdenkens und Probehandelns sowie als kulturelles Archiv (Habermas) zur Klärung unseres politischen Selbstverständnisses ist Politische Bildung in einer Demokratie - bzw. zur Weiterentwicklung einer partizipativen Demokratie - unverzichtbar und ohne Alternative.