DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Vom Ende der Freiwilligkeit

Ekkehard Nuissl

Der gesellschaftliche und der persönliche Bedarf an Lernen und Bildung erhöhen sich, gleichzeitig wachsen die Einflüsse auf die freie Entscheidung der Menschen, an Weiterbildung teilzunehmen: Ende der Freiwilligkeit? - Ekkehard Nuissl setzt sich mit Tendenzen dieser Entwicklung auseinander und beschreibt Konsequenzen für die gesellschaftliche Gesamtkonzeption von Bildung.

Menschliche Neugier ist unerschöpflich. Der Mensch will immer mehr und mehr wissen, mehr und mehr lernen. Aufklärung (Enlightenment) ist wie Sonne und Licht - ohne sie gedeiht der Mensch nicht. Man muß den Menschen nicht zwingen, zu lernen; er will es selbst. Ohne Lernen und Bildung wird der Mensch nicht mündig, Zwang macht ihn unmündig. Sapere aude!

1.

Trotz dieser Leitlinien der Aufklärung gibt es nicht nur in Deutschland eine festgeschriebene Bildungspflicht: eine definierte Zeit, welche jede Person in allgemeinbildenden Schulen zu verbringen hat. Der aufklärerische Grundgedanke reichte offenbar nicht aus, ein Minimum allgemeiner Kulturtechniken gesellschaftlich zu sichern; es bedarf des verordneten Zwanges.

Spätestens hier wird deutlich, daß der Begriff der "Freiwilligkeit" zu unscharf ist, um das Gemeinte präzise zu beschreiben. Genau genommen geht es nicht um den freien Willen, sondern um die freie Entscheidung. Es kann durchaus jemand freiwillig die Schule besuchen und unfreiwillig an Angeboten der Erwachsenenbildung teilnehmen - dennoch hat er sich bei letzterer (von Ausnahmen abgesehen) frei entschieden, bei ersterer nicht.

2.

Wenn die Entscheidung frei ist, stellt sich umso kritischer die Frage danach, ob der Wille frei ist. In der Erwachsenenbildung sind Motiv- und Biographieforschung weit verbreitet. Begriffspaare wie manifeste und latente Bedürfnisse, extrinsische und intrinsische Motivationen machen deutlich, wie differenziert die Freiheit des Willens zu sehen ist und wie vermittelt sich Wille in Entscheidung umsetzt. Die freie Entscheidung, an Erwachsenenbildung teilzunehmen, basiert auf einem Kontinuum, in dem vom freien Willen bis zum expliziten Zwang alles möglich und vorhanden ist.

3.

Noch ist die freie Entscheidung, an Angeboten der Erwachsenenbildung teilzunehmen, nicht angetastet. Gelegentlich wird zwar schon von "Bildungspflicht" gesprochen; die staatlichen Institutionen jedoch, die sie umzusetzen hätten, scheuen davor zurück, da mit ihr auch die Kehrseite der Medaille, die Vorhaltepflicht des Staates an Bildungsmöglichkeiten, verbunden wäre.

Aber die Einflüsse darauf, warum sich Menschen zur Teilnahme an Weiter- und Erwachsenenbildung entscheiden, nehmen zu. Es ist gar nicht mehr immer auseinanderzuhalten, ob es sich dabei um innere Bedürfnisse, eigene Interessen oder fremdgesetzte Anforderungen handelt. Die Übergänge werden immer fließender, ebenso wie die Übergänge zwischen den Bildungsbereichen (vor allem den allgemeinen und beruflichen) insgesamt. Grob gesagt erhöht sich generell der persönliche wie auch der gesellschaftliche Bedarf an Lernen und Bildung. Das Stichwort der "kognitiven Gesellschaft" im Weißbuch der Europäischen Gemeinschaft ist zwar eine schlechte Übersetzung aus dem Französischen, eignet sich jedoch, diese Tendenz als Etikett zu belegen. Gemessen daran sind diskutierte Unterschiede zwischen Lernen, Bildung und Kompetenzaneignung nachrangig.

4.

Die Komplementärfunktion der Erwachsenenbildung, das Ausgleichen und Aktualisieren schulischer Bildung, nimmt zu. Der Umbau des schulischen Lehrkanons hinkt - bei wachsender Geschwindigkeit akzelerierten Wissens - immer weiter hinterher. Das hat ideelle, organisatorische, aber auch materielle Gründe. Der Satz: "Die Schüler von heute sollen an Computern von gestern das Wissen von morgen lernen" verdeutlicht einiges davon. Wie der objektive Bedarf, in der Schule nicht Gelerntes und Lernbares in der Erwachsenenbildung zu lernen, wächst aber auch das Bedürfnis an Weiterbildung: Der traditionelle empirische Befund, die Weiterbildungsteilnahme steige mit wachsendem Bildungsniveau, ist nach wie vor gültig. Bei immer höherem Schulbildungsniveau in der Gesellschaft erhöht sich entsprechend auch die Weiterbildungsteilnahme.

5.

Berufliche Anforderungen an Bildung nehmen zu. Nicht nur, daß in einem Arbeitsleben mittlerweile durchschnittlich mindestens ein Berufswechsel ansteht, auch innerhalb der beruflichen Tätigkeiten beschleunigen sich die Veränderungsprozesse. Die Definition des Deutschen Bildungsrates für das, was mit Weiterbildung gemeint ist, wird immer ungenauer ("Weiterbildung ist die Aufnahme organisierten Lernens nach einem allgemeinen und beruflichen Bildungsabschluß"). Die Konsequenz, transferierbare Kompetenzen in den Mittelpunkt beruflicher Qualifikation zu stellen ("Schlüsselqualifikation"), führt zugleich zu einer Entwertung des Fachlichen. Bildung als Element von Professionalität verändert sich: Wichtiger wird weniger ihr Ergebnis als ihr kontinuierlicher Prozeß.

6.

Die Menge des zu Lernenden erhöht sich. Zwei neue Bereiche allgemeiner und grundlegender Kulturtechniken sind absehbar: die Sprachkompetenz und die Medienkompetenz. Das Beherrschen mindestens einer zweiten Sprache und die Fähigkeit zum Umgang mit neuen Medien werden zu ähnlich gesellschaftlich verbindlichen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Beide Bereiche sind miteinander verzahnt; mit neuen Medien kann derzeit kaum jemand umgehen, der nicht zugleich des Englischen mächtig ist, und Sprachen werden zunehmend in und mit neuen Medien erworben.

Wie historisch das Lesen, Schreiben und Rechnen werden auch die neuen Kulturtechniken durch die wirtschaftliche Grundstruktur der Gesellschaft erforderlich. Medien und Sprachen beginnen im gesamten Alltag eine ähnlich dominante Rolle zu spielen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Der Begriff der "Alphabetisierung" wird daher zu erweitern sein zum Begriff der "Elementarbildung", der aus fünf neuen Kulturtechniken besteht.

7.

Der alltägliche Lernbedarf wird zu groß für die organisierte Weiterbildung und ihre Institutionen. Die Anteile des Lernens verlagern sich auf nicht organisierte Bereiche, auf mediales Lernen, selbstgesteuertes Lernen und inzidentielles ("zufälliges") Lernen. Es gibt bereits Thesen, wonach vier Fünftel des Lernens im Erwachsenenalter nicht im Rahmen organisierter Erwachsenenbildung stattfinden. Natürlich sind unter solchen Bedingungen Aspekte wie Qualität, Ziel, Professionalität und Verbindlichkeit von Lernen und Bildung gesellschaftlich schwer zu definieren und umzusetzen. Andererseits ist ein Ausbau organisierter Weiterbildung, der den wachsenden Bedürfnissen und dem wachsenden Bedarf angemessen ist, kaum vorstellbar. Dies gilt vor allem, weil der Staat sich aus der Finanzierung der Erwachsenenbildung eher herausnimmt, als - wie noch in den 70er Jahren geplant - sich verstärkt zu engagieren. Aus dieser erkennbaren Entwicklung allerdings abzuleiten, organisierte und institutionalisierte Weiterbildung verliere gegenüber dem Gesamtumfang an zu Lernendem und an Gelerntem an Bedeutung, unterliegt einem politischen Trugschluß. Auf organisierte und zielgerichtete Bildung hin orientieren sich auch diejenigen Lernaktivitäten, die nicht in organisierten Prozessen stattfinden. Diese Orientierung umfaßt Ziele, Anforderungen, Strukturvorgaben und überhaupt Verständigungsmöglichkeiten.

8.

Aus den genannten Thesen ließen sich mehrere bildungspolitische Konsequenzen ableiten. Einige davon betreffen die Institutionen der Bildung; sie müßten flexibler und systematischer aufeinander bezogen agieren - vom Kindergarten über Schule, Berufsschule, Hochschule bis zur Erwachsenenbildung. Eine altbekannte Forderung, die aber eine auch ökonomisch größere Bedeutung erhält. Zusätzliche Lernnotwendigkeiten müßten mit dem Abbau tradierter Lernstoffe verbunden sein. Nach neuen Systemen von Kontinuität der Lernvorgänge wäre zu suchen. Nicht organisierte Lern- und Bildungsprozesse sollten nicht verdrängt, sondern systematisch in Bildungsprogramme einbezogen und auf organisierte Bildung hin vermittelbar sein. Eine Beliebigkeit und Individualisierung von Lern- und Bildungsprozessen ist ebenso zu vermeiden wie eine Pädagogisierung des gesamten Lebensalltags.

9.

Vom Ende der Freiwilligkeit - dies ist die eine Seite der Tendenz. Der Bedarf an Bildung wächst, das Bedürfnis nach Bildung auch. Die andere Tendenz ist, daß Individualität wichtiger wird, individuelle Beweglichkeit und individuelle Entscheidung. Dies bedeutet, daß formale Systeme ebenso an Bedeutung verlieren wie formale Abschlüsse, Zertifikate und Diplome. In den organisierten wie in den individualisierten Lernprozessen werden kommunikative Elemente wesentlich stärker zu betonen sein, ebenso die Förderung sozialer Kompetenzen. Wenn die Tendenz zur Individualisierung wächst, dann ergibt sich rasch auch, daß die Tendenz zur Egozentrik wächst. Politisch und bildungspolitisch aber verringert sich der individuelle Spielraum, ob gelernt werden soll. Die Anforderungen daran, sich gesellschaftlich zu verhalten, steigen. Was individuell wächst, ist nur die Entscheidungsmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Varianten.

Wenn gesellschaftliche Visionen auch im Bildungsbereich immer wichtiger werden, fragt es sich, ob etwa der Begriff "kognitive Gesellschaft" eine Vision ist, für die es sich zu engagieren lohnt, Es ist eher eine Deskription dessen, was sein muß, wenn Europa seinen Standortfaktor Bildung ausspielt. Es ist keine gesellschaftliche Vision wie etwa die sozialistische Gesellschaft oder die demokratische Gesellschaft. Aufklärung war gedacht als Weg des Menschen aus der Unmündigkeit. Bildung hat hier ihre utopische Aufgabe. Die kognitive Gesellschaft ist ein operationalisierter Standortfaktor, ein Weg des Menschen in die Unmündigkeit. Hier zeigt sich, daß Bildungspolitik konzeptionell neu gedacht werden muß. Wenn die Ziele ambivalent werden, wird auch Bildung ambivalent.

10.

Wie sich die Tendenzen entwickeln, muß sich zeigen. Vielleicht läßt es sich auch beeinflussen, sofern Bildungspolitik aus ihrer untergeordneten Rolle wieder herauskommt und in ein neues konzeptionelles Stadium eintritt.

Eine wichtige Grundforderung ist dabei, bildungspolitische Konzeptionen von den Menschen, nicht von den Bildungsinstitutionen aus zu denken. Bei der stetigen Abnahme klassischer Erwerbsbiographien (Schule - Ausbildung - Erwerbstätigkeit - Rente), die in manchen westeuropäischen Ländern schon für über die Hälfte der Beschäftigten nicht mehr zutreffen, sind bildungspolitisch Möglichkeiten zu schaffen, flexibel und doch qualitätsvoll und verbindlich Bildungsinteressen zu befriedigen und Bildungsvoraussetzungen zu schaffen. Ohne Institutionen geht dies nicht, mit starren Institutionen aber auch nicht. Der Staat wird seine Vorhaltepflicht im Bildungsbereich neu konzipieren, die Wege der freien Entscheidung offener gestalten müssen. Nur so wird der zunehmend eingeengte Spielraum, lernen zu müssen, für Menschen bearbeitbar sein. Wenn Bildung der zentrale Standortfaktor westeuropäischer Staaten, insbesondere Deutschlands, ist, dann ist es in der Tat erforderlich, diesem auch politisch einen größeren Stellenwert zu geben als in den letzten 15 Jahren.