DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

"Wachsende Verpflichtung zum Lernen"

Gespräch mit Prof. Dr. Rita Süssmuth

Prof. Dr. Rita Süssmuth ist Bundestagspräsidentin und Präsidentin des Deutschen Volkshochschul-Verbandes. - Das DIE-Gespräch mit Rita Süssmuth (R.S.) über das Prinzip der Freiwilligkeit und lebenslanges Lernen, über die "kognitive Gesellschaft" sowie über Anforderungen und Konsequenzen, die sich für das individuelle und für das organisierte, institutionalisierte Weiterlernen ergeben, führte Ekkehard Nuissl (DIE).

DIE: Frau Süssmuth, ich habe versucht herauszubekommen, wer das Europäische Jahr des "lifelong learning" in Deutschland in das "Jahr des lebensbegleitenden Lernens" umbenannt hat und warum. Vielleicht, damit es nicht so ähnlich klingt wie lebenslänglich? Lebensbegleitend versus lebenslang - wie würden Sie das formulieren?

R.S.: Ich bin mehr für den Begriff des "lifelong", des lebenslangen Lernens. Mich begeistert die Idee, daß das Lernen im Alter genauso eine Chance ist wie das Lernen im frühen Kindesalter. Wichtig für das Konzept des lebenslangen Lernens finde ich erstens die Eröffnung der Perspektive, der Möglichkeiten. Zweitens aber drückt sich darin auch eine Notwendigkeit aus, und beides gehört zusammen.

DIE: Warum glauben Sie, daß dieser lebenslange Lernprozeß heute individuell und gesellschaftlich wichtiger ist als früher?

R.S.: Zunächst hat im existentialistischen Sinne - wenn ich Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit definiere - der Lerndruck zugenommen. Er ist existenzsichernder geworden, aber nicht nur im Sinne der unmittelbaren materiellen Lebensbedürfnisse, sondern auch im Sinn einer humanen Existenz. Ohne Lernen nehmen die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe ab. Der Druck und der Zwang zum Lernen haben ebenso zugenommen wie die Erkenntnis, daß der Mensch nach Ergebnissen der modernen Hirnforschung erst am Anfang seiner Lernmöglichkeiten steht und nicht bereits fast überfordert ist, wie wir vielleicht angenommen haben. Das freiwillige Lernen hat dabei allerdings nicht abgenommen. Ich nehme mal den Bereich Kultur: Das Interesse der Menschen an Ausstellungen, ob zur bildenden Kunst, zur Geschichte oder zur Archäologie, ist freiwillig. Oder das Interesse an Erfahrungen in fremden Ländern: Steht dahinter ein Zwang zum Lernen?

DIE: Bei Ausstellungen oder kulturellen Attraktivitäten hätte ich ein bißchen Schwierigkeiten zu sagen, daß das mit Lernen so sehr viel zu tun hat. Wenn ich mir gut inszenierte Massenausstellungen anschaue, dann ist ja immer die Frage: Was wird erreicht bei denjenigen, die da kommen, außer, daß sie das ganz interessant finden? Denn viele dieser modernen Inszenierungen sind auf die große Zahl gerichtet, auf Sensationsbefriedigung und Attraktivität; das ist für mich ein bißchen weg vom Lernen.

R.S.: Was passiert denn zwischen denjenigen, die miteinander sprechen, während sie in Ausstellungen sind, und nach dem Museumsbesuch? Da tauschen sich die Menschen über ihre Wahrnehmungen aus. Und Lernen hat für mich auch mit Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung zu tun. Ob das nun eine Christo-Aktion ist oder eine Cézanne-Ausstellung, es wird über Wahrgenommenes gesprochen, über Farben, über Gegenstände, über Darstellungsformen, technische Dinge. Da erfolgt zunächst einmal eine Blickweitung. Ich denke, es steht uns nicht an, die Veränderung von Wahrnehmung von vorneherein nicht als Lernen zu sehen. Wir könnten ja auch in die Disco gehen! Aber warum gehen wir zu Ausstellungen? - Jetzt werden Sie sagen: Ja, weil man da gewesen sein muß.

DIE: Nun, das ist schicht-, gruppen-, milieuabhängig! Aber ein bißchen provokativ: Es ist für mich eine Entgrenzung, wenn Sie sagen: Es ist nicht mehr so wichtig, daß Lernen angeleitet oder als Lernen organisiert ist, sondern daß kulturelle und interkulturelle Erlebnisräume, Wahrnehmungen und Kommunikationen schon Lernen sind. Ich sehe da eine politische Gefahr, weil natürlich schwer zu argumentieren ist, Lernprozesse müßten gefördert werden, wenn man auf der anderen Seite sieht, daß sehr viel an Lernprozessen in alltäglichen Kontexten stattfinden kann. Diese politische Gefahr hängt auch mit der aktuellen erwachsenenpädagogischen Diskussion zusammen, wo gesagt wird: Es gibt so viel an inzidentiellem Lernen, an zufälligem Lernen, warum brauchen wir die ganzen Einrichtungen noch, die so mühsam sich bemühen, Kurse anzubieten? Sehen Sie eine solche Gefahr auch? Aber zuvor: Teilen Sie die Sicht vom Entgrenzen des Lernbegriffs?

R.S.: Wenn Entgrenzen Erweiterung bedeutet, dann ist das für mich positiv zu besetzen, aber nicht, weil es etwas Neues ist, sondern weil es die Rückkehr zu einem Bildungs- und Lernverständnis bedeutet, das für die Humanisten - gerade auch für Leute wie Herder und Humboldt - selbstverständlich war. Wir haben es abgetrennt und bestimmte menschliche Entwicklungs- und Lernbereiche ausgegrenzt. Und die Menschen holen es sich selbst zurück. Das zweite ist - und das ist jetzt ein zentraler Konflikt - die Frage des organisierten Lernens, das Sie an Anstrengung und Mühsamkeit koppeln.

DIE: Ganz im Sinne von Hans Tietgens!

R.S.: Ja. Ich selbst denke, daß zum Lernen beides gehört. Es gibt Lernsituationen, die mit hoher Anstrengung verbunden bleiben. Das Verhältnis von Anspannung und Entspannung finde ich wichtig. Auch das Verhältnis von verborgener und offenkundiger Organisation. Aber in bezug auf Organisation ist das Museum nicht inzidentielles Lernen, sondern hochorganisiertes, denn wenn es diese Organisationen nicht gibt, bleiben auch Zugänge zur Kunst verschlossen. Ein gutes Museum führt Sie bereits durch die Abfolge der Bilder.

DIE: Ihr Wort in die Ohren der Museumsleute! Das wird nicht allgemein so geteilt ...

R.S.: Ich habe gesagt: Ein gutes Museum. Es mag ja Museen geben, die nur chronologisch ordnen, aber es gibt viele andere, die thematische Schwerpunkte setzen. Sie haben von der Museumspädagogik gesprochen, die Menschen zum Sehen und Wissen anleitet. Dennoch plädiere ich dafür, daß ich da lernen kann, wo ich einfach mal die Beine baumeln lasse und mir Zugänge verschaffe, die nicht gleich überorganisiert sind. Daneben sind natürlich formal organisierte Lernprozesse notwendig. Heute ist vielmehr das Problem, die Verbindung zwischen beiden zu schaffen. Allerdings sehe ich auch ermutigende Zeichen, indem jetzt viel mehr von außen in die Institutionen kommt und sich organisierte Lerninstitutionen wie Schulen und Hochschulen neu befruchten lassen.

DIE: Das steht im Kontext der Diskussion um Schlüsselqualifikationen. Wenn wir Schlüsselqualifikationen sagen, klingt das human: Man entwickelt persönliche Kompetenzen, die sich in unterschiedlichen Feldern - privat, dienstlich, beruflich - realisieren lassen. Diese Akzentuierung hat aber eine bisher eher verborgene Nebenseite: ein Stück Verlust des Fachwissens. Es ist praktisch so, als würde man immer nur die Voraussetzungen für eine spezifische Fachlichkeit erlernen und das spezifisch Fachliche dann in raschen Wechseln jeweils arbeitsplatz- oder aufgabenbezogen hinzufügen. Darin könnte ja ein Problem sein. Was ist Ihre Position zu den Schlüsselqualifikationen und zum Verlust des Fachlichen?

R.S.: Im Wissenschaftsbereich unterscheiden wir immer Disziplinarität und Interdisziplinarität. Wenn wir fragen: Wie arbeiten eigentlich die sogenannten Eliten, die Facheliten, die Leistungseliten zusammen, stellen wir fest: Sie haben hohe Spezialqualifikationen, aber ein Defizit an fachübergreifenden Qualifikationen. Und bei den Schlüsselqualifikationen geht es ja eher um Fachübergreifendes, z.B. "das Lernen lernen". Ich bin überzeugt, daß man die Fähigkeit zum Lernen immer wieder an spezifischen Tatbeständen, Objekten und Sachverhalten erproben muß, damit der Gegensatz - hier Fachdisziplinen, dort Schlüsselqualifikationen - überwunden wird. Wichtig ist, daß wir eine andere Art des Lernens in der Fachdisziplin entwickeln und dort fragen: Was ist aus dem Bereich des Fachlichen und Methodischen denn übertragbar auf andere Situationen?

DIE: Ich zitiere aus dem "Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung" der Europäischen Union - das ist ja leider schlecht übersetzt aus dem Französischen. Das liegt wahrscheinlich daran, daß die Übersetzungsbüros keine pädagogischen Fachleute haben. - Dort heißt es im Abschnitt vom "Ende der Grundsatzdebatten": "Allgemeine und berufliche Bildung bilden keinen Gegensatz mehr und sind nicht mehr voneinander zu trennen. Die Bedeutung des Allgemeinwissens als Voraussetzung für die beruflichen Kenntnisse ...": Entspricht das dem, was Sie gerade gesagt haben, oder sehen Sie das anders?

R.S.: Was ist das anderes als Kerschensteiner?

DIE: Ja, eigentlich schon. Aber dahin ist man doch immerhin jetzt gekommen.

R.S.: Oder zurückgekommen: Von der Überspezialisierung des Fachwissens kommt man wieder dahin zu fragen: Was ist an dem Spezifischen allgemein, ohne daß wir jetzt wissen, was im Allgemeinen spezifisch ist. Die Umkehrung geht nämlich nicht.

DIE: Wir hatten die Transfersystematik fachlicher Qualifizierung angesprochen. Der Gedanke, daß man jetzt wieder zurückkommt auf den alten Kerschensteiner, ist der, daß man nicht auf einer horizontalen Ebene überträgt, sondern daß man im Verlauf des Lebenszyklus immer häufiger immer neue Anforderungen hat, am eigenen Arbeitsplatz oder durch Berufswechsel oder durch Umschulung. Kann es sein, daß ein Verlust der Fachlichkeit, das, was früher ein Stück Identität war - ich beherrsche ein Handwerk, und dieses Handwerk ermöglicht mir zu leben -, bei so einem "modernisierten Kerschensteiner" verloren geht?

R.S.: Es könnte dazu kommen, wenn wir vorschnell etwas aufgeben, was wir nicht aufgeben sollten. Wenn ich nirgendwo in der Sache zu Hause bin, kann ich kein Generalist sein. Auch der Generalist braucht ein fachliches "Zuhause". Die Frage ist doch vielmehr, wie ich bestimmte unterschiedliche und zu erweiternde Qualifikationen erwerbe. Die theoretischen Anforderungen etwa im Handwerk sind heute so hoch, daß sie in hohem Maß dazu qualifizieren, auch theoretische Anforderungen in anderen Bereichen zu bewältigen.

DIE: Aber was ist eigentlich mit denen, deren Lernkapazitäten aus unterschiedlichen Gründen begrenzt sind? Es gibt heute viele Kenntnisse und Fertigkeiten, die frühere Kulturtechniken nicht ersetzt haben, sondern zusätzlich bestehen: Medienkenntnis, Medienkompetenz, Sprachkompetenz, die eigene Steuerungskompetenz, sich in einer schwierigen Welt zurechtzufinden. Leute, die gegenüber diesem erweiterten Kanon von Kulturtechniken "Analphabeten" sind - hier braucht man einen neuen Begriff! -, bekommen Probleme mit einer humanen Lebensführung. Das steht auch im "Weißbuch". Was ist da zu tun?

R.S.: Zunächst heißt das für mich, nicht zu schnell die Gruppe zu definieren, die herausfällt, da meine eigene Bildungsarbeit mich gelehrt hat: In Personen und Gruppen sind fast immer noch Fähigkeiten zu entwickeln, die überhaupt nicht "angezapft" worden sind. Über Erfolgserlebnisse etwa lassen sich Lernblockaden lockern. Es gibt aber auch Menschen, bei denen man wirklich auf Grenzen stößt. Da gilt es, auf der Basis der erreichten Entwicklungschancen Möglichkeiten für ihre Beteiligung zu eröffnen. Zu sagen, es gibt etwa drei bis fünf Prozent, die nicht mehr gesellschaftlich integrierbar sind, ist eine Bankrotterklärung der Gesellschaft. Denn es gibt sehr, sehr viele Tätigkeiten, wo die Gesellschaft sich lediglich überfordert sieht, sie zu organisieren, um auch diesen Menschen Beteiligungsmöglichkeiten über Aufgaben und Arbeit zu geben.

DIE: Sie haben vorhin optimistisch die Hirnkapazitäten der Menschen erwähnt, was sich auch mit dem Begriff der "kognitiven Gesellschaft" in der deutschen Fassung des "Weißbuches" deckt. Nun ist die empirische Einschätzung die, daß die größten Lernschwierigkeiten weniger an Hirnkapazitäten liegen als vielmehr an sozialen, gesellschaftlichen, individuellen Zugangsproblemen. Wo würden Sie ansetzen, um die Schwierigkeiten von Menschen im Umgang mit zu Erlernendem in unserer Gesellschaft zu beheben oder zu erleichtern?

R.S.: Eine schwierige Frage, aber ich setze zunächst bei dem an, was uns andere Völker mit ganz hohem Analphabetentum gezeigt haben. Überall dort, wo Lernmöglichkeiten für die Menschen geschaffen worden sind, haben sich in ihnen Lernfähigkeiten entwickelt. Das zweite ist: Es ist längst vergessen, daß wir alle mal auch Ivan Illich an den Lippen gehangen haben; gelernt wird eben nicht nur in den Schulen. Gerade für Menschen mit Sozialisationsbarrieren und Schwierigkeiten im Zugang muß man auch andere Bedingungen schaffen. Unsere Erfahrung zeigt, daß "kognitive" Menschen nicht die Mehrheit bilden. Ein anderes Beispiel: Unsere Skepsis gegenüber wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen! Sie hat entscheidend dazu beigetragen, daß die Kommunikation der Menschen mit dem, was die Forschung tut, nicht mehr gegeben ist. Wir brauchen also ganz neue methodische Zugänge, vor allem mit neuen Visualisierungsformen und mit Kommunikationstechniken, wie Menschen interaktiv mit Inhalten umgehen können. Das sind spannende Aufgaben, bei denen man wieder mehr Menschen mit ihren Fragen, ihrer Abwehr, aber auch mit ihren neuen Öffnungs- und Einsichtsmöglichkeiten erreichen kann. Das setzt aber voraus, daß die Wissenschaft selbst begreift: Sie kann sich nicht mehr vermitteln, wenn sie diese Kommunikationsblockade nicht aufhebt. Ob das die Wissenschaft allerdings allein kann, will ich mit einem großen Fragezeichen versehen.

DIE: Dennoch ist es noch sehr optimistisch. Wenn ich mir die reale Situation der Hochschulen und der wissenschaftlichen Weiterbildung anschaue, da gibt es doch mehr Schwierigkeiten
als ...

R.S.: Ja, aber wo lernen Menschen heute? Wir verteufeln zum einen die negative Seite des Fernsehens, aber immer mehr Menschen ...

DIE: ... lernen am Fernseher. Wissensvermittlung erfolgt heutzutage hauptsächlich medial ...

R.S.: ... und die Computerkenntnisse hat die junge Generation auch nicht primär aus der Schule ...

DIE: Noch nicht. Aber noch einmal zu dieser institutionellen Seite des "lifelong learning": Das lebenslange Lernen würde institutionell gesehen heißen, daß es so etwas geben muß wie eine reflektierte und in irgendeiner Weise vermittelte Aufeinanderfolge bestimmter Institutionen als Bezugspunkte menschlichen Lernens, also Schule, Berufsausbildung, Hochschule, Erwachsenenbildung. Irgendwie muß erkennbar sein für die Menschen, was sie zu welcher Zeit wo lernen können und wie sich das unterscheidet. Nun kann man aber feststellen, daß es eigentlich ganz wenig wirkliche systematische Kooperationen und Reflexionen dieses institutionellen Aufbaus von Bildung gibt. Wo ist der bildungspolitische Ansatzpunkt, um institutionell eine größere Durchlässigkeit zu erzielen, die lebenslanges Lernen auch gewährleistet?

R.S.: In einer Gesellschaft, die sich immer mehr über die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens definiert und ihre Chancen für die zukünftigen Generationen darin verankert, gibt es eine Verpflichtung, Lernen zu organisieren und bereitzustellen. Aber ich widerspreche denjenigen, die inzwischen auch auf der öffentlichen Bühne sagen, das müßte viel stärker privat organisiert werden. Wenn es eine Aufgabe des Staates im Sinne des Ordnenden und der chancenausgleichenden Funktion gibt, dann gehört dazu ganz elementar Bildung oder das, was wir heute unter Lernen thematisiert haben. Wobei für mich zwischen Lernen und Bildung noch ein Unterschied ist: Lernen ist nur eine Voraussetzung für Bildung. Es gilt zunächst einmal, bewußt zu machen, daß die These "Bildung ist Bürgerrecht und Bürgerpflicht" nichts an Wichtigkeit verloren hat. Ihre Bedeutung muß umso nachdrücklicher in einer Gesellschaft betont werden, in der in absehbarer Zukunft die finanziellen Ressourcen immer mehr über den Zugang zu Information und Wissen entscheiden. Der gleiche Zugang zu den Informationsquellen und damit auch zu den organisierten Lernangeboten ist sicherzustellen. Und wenn Sie nach der Vernetzung fragen: Wie sind denn die Institutionen einander zugeordnet? Haben sie sich nicht doch stärker nebeneinander entwickelt als zueinander? Die Weiterbildung hat immer noch eine Zwitterstellung. Wie ordnen sich etwa Volkshochschulen den Bildungsorganisationen, also anderen Erwachsenenbildungsträgern, aber auch dem Sekundarschul-, dem Hochschulsystem und dem beruflichen Weiterbildungssystem zu? Wenn ich in diesem Bereich Synergieeffekte erzielen will, beispielsweise beim Spracherwerb oder bei der Unterweisung im Bereich technischer Kompetenzen, schulisch und außerschulisch, dann muß ich genauer wissen: Wo rufe ich denn das ab, wer kooperiert mit wem, was weiß ich jeweils von denjenigen, die die Bildungsangebote in Anspruch nehmen? Die Übergänge Schule/Hochschule sind die schwächsten, die Hochschulen wiederholen in aller Regel in den ersten und zweiten Semestern das, was schon an den Gymnasien und in anderen Formen, die zum Abitur führen, gelernt worden ist, und nehmen überhaupt keinen Bezug darauf. Defizite, die man in dieser Zeit ausgleichen könnte, werden nicht ausgeglichen. Und das gilt bis hinein in die Weiterbildung. Übrigens auch mit einem Mehraufwand an Kosten, der in Teilen reduziert werden könnte.

DIE: Die Situation ist also unbefriedigend und müßte geändert werden, aber es gibt Probleme bei den Zuständigkeiten und beim notwendigen Instrumentarium.

R.S.: Ich meine, daß die verteilten Zuständigkeiten hinderlich sind. Auch das föderative System richtet seine Energien bisher nicht darauf zu klären, was denn nun als harmonisierende Entscheidung erforderlich ist, damit wir besser damit umgehen können. Zum anderen fehlt auch ein Konzept dafür, was denn an der Universität gelernt werden muß, damit nachfolgende Weiterbildung sich anschließen kann. Da gibt es immer noch die Vorstellung, daß während des Studiums ein Kontingent abgearbeitet werden muß. Dadurch bringen wir ständig studienverlängernde Elemente mit hinein. Oder auch die Beziehung von Theorie und Praxis: Es sind Vernetzungen notwendig, die auch einmal über den reinen Bildungsbereich hinaus in die Praxisbereiche hinein gehen.

DIE: Konkret dazu sagt das "Weißbuch", die Bildungseinrichtungen müßten mit Unternehmen stärker zusammenarbeiten. Wie stehen Sie dazu?

R.S.: Das ist mir zu eng gefaß, da dies nur ein möglicher Kooperationsbereich ist. Ich habe etwas gegen das Wort Unternehmen, weil damit immer nur das Wirtschaftsunternehmen verbunden wird. Wir brauchen eine Zusammenarbeit zwischen Bildung und vielfältigen Betrieben, um die entsprechenden Tätigkeitsfelder in die Ausbildung einzubeziehen.

DIE: Erwachsenenbildung ist derjenige Bildungsbereich, der am flexibelsten ist, weil er noch nicht so weit entwickelt ist, und der eigentlich auch, wenn man den Lebenslauf von Menschen anschaut, die größte Zeitspanne abdeckt. Wo würden Sie Akzente setzen in diesem Bildungsbereich, wenn er denn staatlicherseits ausgestaltet würde?

R.S.: Zunächst bin ich auch hier für eine plurale Trägerschaft. Was wir brauchen, sind vorzeigbare Modelle der Weiterbildung, die entsprechend der veränderten Lebenssituation der Menschen die verschiedenen Ansätze integrieren. Wir sehen etwa bei den Volkshochschulen, wie uns die sogenannten esoterischen Bereiche weggenommen werden, ohne daß begriffen wird, wie wichtig diese für Kultur, Körper und Identität sind. Wenn wir nicht wieder sehen, in welcher Weise diese Bereiche für Entfaltung und Lernen des Menschen zusammengehören, werden wir immer mehr nur das uns bekannte utilitaristische System verfolgen: Wo kann ich eine vermittelte Qualifikation unmittelbar einsetzen? Nicht berücksichtigend, daß damit die Ressourcen an menschlicher Phantasie, Entwicklung von Neuem, Erfindungsgeist immer weiter zurückgehen.

DIE: Da haben Sie aber keine starke Fraktion in der aktuellen Bildungspolitik.

R.S.: Nein, überhaupt nicht. Trotzdem gibt es ja in dem "mainstream" immer auch diejenigen, die gegenhalten. Und mitunter ist es die Frage, mit welchen Argumenten Sie überzeugen können. Ob Sie Banken oder Autofirmen oder ob Sie Telekommunikation nehmen: Wenn diese Kunst und Kultur in ihre Häuser holen, dann kann ich sagen, das ist Imagepflege, damit will man Kunden gewinnen. Aber die klugen Manager wissen längst, in welchem Maße Maler und Literaten Ideen einbringen, die die Fachleute im engeren Sinne gar nicht haben. Künstler können nicht nur zur Imagepflege, sondern zur Erhöhung von Produktivität einbezogen werden. Und in den organisierten Bildungssystemen fällt das leider noch immer unter Luxus.