DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Rückblicke

Freiwilligkeit - ein reichlich fragwürdiger Begriff

Hans Tietgens

Man könnte hintergründig fragen: Ende der Freiwilligkeit, wieso denn das? Wird jetzt nicht gerade allerorten die Privatisierung propagiert? Bleibt damit nicht alles allein dem einzelnen überlassen? Aber nein, diese Privatisierung übt ja Druck aus, zwingt die Individuen, sich zu entscheiden. Mit der Frage ist wohl der bildungspolitische Fehllauf nicht gemeint. Immerhin gehört zum Ende auch ein Anfang und eine Entwicklung, hier von der Einschätzung eines Begriffs. Der aber ist reichlich zwielichtig und hat auch früher schon manche Verwirrung geschaffen. Wenn in der Vergangenheit allenthalben die freiwillige Beteiligung als Kennzeichen von Erwachsenenbildung ausgegeben worden ist, so war dies wohl von dem Bemühen bestimmt, sich von der Schule zu unterscheiden. Dazu paßt auch die in der Vergangenheit übliche Ausgrenzung des Zweiten Bildungsweges und der beruflichen Weiterbildung aus der Begriffsbestimmung von Erwachsenenbildung. Zudem erlaubte es den Politikern, diese Erwachsenenbildung nicht ganz so ernst zu nehmen, z.B. Hauptberuflichkeit für diesen Bereich nicht für nötig zu halten. Schließlich konnte der häufige Hinweis auf das Freiwillige des Besuchs von Veranstaltungen gegenüber den Kursleitenden einerseits als Vorteil herausgestellt, andererseits als Mahnung angesichts der Möglichkeit des Wieder-Wegbleibens genutzt werden. Denn auch für den nicht lernzielbezogenen Bereich der EB bleibt es reichlich fragwürdig, von der Freiwilligkeit der Teilnahme zu sprechen. Der Besuch der Veranstaltungen kommt schließlich weder aus dem Nichts noch aus dem All, sondern aus einer jeweils individuell variierten Konstellation. Die Motive sind also ein bestimmender Faktor, und sie können sehr verschieden sein, selbst noch innerhalb der einzelnen Kurse oder Gesprächskreise. So habe ich schon 1967 in einem der ersten "Theorie und Praxis"-Bände ("Lernen mit Erwachsenen", S. 12) darauf hingewiesen, "daß die Freiwilligkeit nur im Rahmen der Gründe für die Beteiligung gilt". Und die "reichen von der momentanen Neugier bis zur beruflichen Notwendigkeit" (ebd.). In einer Anmerkung heißt es dann: "Versucht man, empirische Untersuchungen zur Frage der Motivation auf einen Nenner zu bringen, so lassen sich drei große Motivationskomplexe nennen: das Informationsbedürfnis, das Kommunikationsbedürfnis, das Kompensationsbedürfnis" (ebd., S. 44). Für das Lernverhalten spielen dann auch die vorausgegangenen Lernerfahrungen und die Lerngewohnheiten eine Rolle. Hingegen ist das Reden von der Freiwilligkeit ein Operieren mit einer unbekannten Größe. Ein Schlüsselphänomen für das erwachsenendidaktische Planen und für erwachsenengemäße Arbeitsweisen sind vielmehr die Erwartungen, die mit der jeweiligen Teilnahme verbunden werden, und auch die sind vorab nur begrenzt abschätzbar.

Von einem Ende der Freiwilligkeit zu sprechen, fehlen also schon in der Vergangenheit die Voraussetzungen. Nur die Art der Erwartungen kann sich verschoben, die Gewichtung kann sich verändert haben. Auf diese ist daher mehr denn je die Aufmerksamkeit zu richten. Wichtig wird dann, ob innere Bedürfnisse oder äußere Umstände zur Teilnahme motivieren, und ebenso, wie weit die Antriebskraft reicht angesichts der sich immer mehr ausbreitenden Ablenkungsmöglichkeiten. So könnte man sagen, daß an die Stelle der Freiwilligkeit der Entscheidungszwang getreten ist. Aber auch das ist so neu nicht, denn wenn in früheren Zeiten von der didaktischen Selbstwahl als Merkmal der Erwachsenenbildung gesprochen wurde, so konnte auch dies nur bis zur Entscheidung für dieses oder jenes Angebot gelten, nicht für den gesamten Verlauf einer Gruppenveranstaltung.

Nun könnte noch ein anderer, ebenfalls zweideutiger Begriff auf das Ende der Freiwilligkeit schließen lassen, der des life long learning. Aber auch hier zeigt ein Blick in die Geschichte, wie die Parole vom lebenslangen Lernen in einer mißverständlichen Auslegung in der Bundesrepublik verbreitet worden ist. Nicht zuletzt der Umstand, daß die Lust zum Weiterlernen in der Bevölkerung geringer erscheint, als Befragungen und Statistiken vermuten lassen, hat den immer wiederholten Appell, sich Lernprozessen auszusetzen, als Zwang zum Lernen erscheinen lassen. Richtig sind daran der Verweis auf den hohen Mobilitätsgrad unserer Gesellschaft und die damit verbundene Aufforderung, wechselnden Anforderungen nachzukommen. Indes kann auch damit keine Verpflichtung verbunden sein, sondern es wird damit nur die Aufmerksamkeit dafür verlangt, in welchen Situationen ein Weiterlernen angebracht ist. Nur weil dabei allzu leicht auf den Erwerb gerade notwendig gewordener Qualifikationen kurzgeschlossen wird, versuchte man, auch für nicht unmittelbar sich aufdrängende Veränderungen zu sensibilisieren. Daß damit Bildung zum Modus gesellschaftlicher Moral wird, erscheint nach den antihumanen Erfahrungen in diesem Jahrhundert so beklagenswert nicht.