DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Arbeitskraftunternehmer als neuer Leittypus?

Flexibilisierung der Arbeit und Patchwork-Biographien

Hans J. Pongratz

 Dr. Hans J. Pongratz arbeitet am Institut für sozialwissenschaftliche Information und Forschung e.V. (ISIFO) in München.

Verändern sich ehemals als berufliche Normalbiographie bezeichnete Formen des Erwerbslebens immer mehr in Richtung einer Fragmentierung von Erwerbsverläufen mit Patchwork-Biographie-Charakter? - Hans J. Pongratz untersucht die These vom Arbeitskraftunternehmer als neuer Grundform im Hinblick auf ihre Reichweite, geht den Anforderungen und Folgen einer Biographisierung von Erwerbserfahrungen nach und sieht Konsequenzen für die Erwachsenenbildung vor allem in der Entwicklung von Konzepten zur Deutung und Reflexion des eigenen Lebensverlaufes.

Abstract:
Working biographies today do not last for life. The author describes the concepts of labour entrepreneur as a new type of labour which means that employees put their competence to the market. Characteristics of the labour entrepreneur is responsibilityfor the organisation and the marketing of one's own competence. As a consequence in adult education didactical and methodical concepts for the interpretation and self-reflection of one's own biography have to be developed.

Die Formen, in denen Arbeitskraft von Erwerbstätigen angeboten und von Betrieben genutzt wird, verändern sich. Mit der These vom Arbeitskraftunternehmer als neuem Leittypus von Erwerbsarbeit gehen Günter Voß und ich (1998) davon aus, dass Erwerbstätige zunehmend unternehmerisch mit ihrer eigenen Arbeitskraft umgehen müssen. Sie entsprechen damit Forderun
gen der Betriebe nach mehr Eigenverantwortung und Selbstorganisation in der täglichen Arbeit. Statt auf Anweisung reagierende Arbeit-Nehmer suchen Betriebe zunehmend selbständig agierende Auftrag-Nehmer, die bereit sind, sich bei jeder Aufgabe von neuem zu beweisen. Führt eine solche Entwicklung zu neuen Mustern von Erwerbsverläufen, zu Patchwork-Biographien, wie sie in der Individualisierungs-Diskussion postuliert werden?

Als „Bastelexistenz" kennzeichnen Hitzler und Honer (1994) die wachsende Anforderung, das eigene Leben überlegt und konsequent zu gestalten; Keupp (1988) spricht vom Erfordernis der kohärenten Verbindung unterschiedlichster Lebensentscheidungen in einer „Patchworkidentität". Eine Grenze fanden Individualisierungsprozesse lange Zeit im System der Erwerbsarbeit, das in modernen Industriegesellschaften eine Vielzahl von institutionellen Regelungen und Bindungen aufweist. Ausdruck des hohen Grades an Standardisierung und Normierung war bislang die sogenannte „Normalbiographie". Männliche Erwerbstätige blieben nach einer Ausbildungsphase in der Regel als Vollzeitbeschäftigte im erlernten Beruf und im gewählten Betrieb und machten dort (mehr oder weniger) Karriere - bis zum ebenso normierten Übergang in den Ruhestand (vgl. Kohli 1985). Seit Mitte der achtziger Jahre steht aber auch dieses Erwerbssystem unter verstärktem Veränderungsdruck im Gefolge der Globalisierung und Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen.

Arbeitskraftunternehmer als neue Grundform der Ware Arbeitskraft

Wir beobachten in weiten Teilen der Produktions- und Dienstleistungsarbeit einen Wandel weg von durchstrukturierten Arbeitsvorgaben und hin zu temporären, marktförmigen Auftragsbeziehungen, etwa beim ,Outsourcing` von Aufgaben oder in der Neustrukturierung der innerbetrieblichen Kooperation (z.B. Einführung von Gruppenarbeit, Projektorganisation oder Telearbeit). Die spezifische Qualität des Arbeitskraftunternehmers als neuem Typus von Arbeitskraft lässt sich idealtypisch mit drei Thesen fassen.

Selbst-Kontrolle: Verausgabung der Arbeitskraft bedeutet beim Arbeitskraftunternehmer vor allem aktive Selbststeuerung der eigenen Arbeit im Sinne der Unternehmenserfordernisse bei nur noch rudimentären Handlungsvorgaben (z.B. Flexibilisierung von Arbeitszeiten, Erwartungen an verstärkte Eigenmotivation). Die neue Devise der Betriebe im Umgang mit Erwerbstätigen heißt: „Wie Sie die Arbeit machen, ist uns egal - Hauptsache das Ergebnis stimmt!" Betriebliche Fremdkontrolle (z.B. durch Vorgesetzte) wird immer mehr durch Selbst-Kontrolle der Arbeitenden ersetzt - und ist meist begleitet von massiven Steigerungen des Leistungsdrucks und von neuartigen Strategien indirekter betrieblicher Steuerung.

Selbst-Ökonomisierung: Dabei verändert sich das Verhältnis zur eigenen Arbeitskraft als Ware: Aus einem nur gelegentlich und eher passiv auf dem Arbeitsmarkt agierenden Arbeitskraftbesitzer wird zunehmend ein strategischer ,Vermarkter eigener Fähigkeiten`. Die entsprechende betriebliche Devise könnte lauten: „Sie bleiben nur so lange, wie Sie nachweisen und sicherstellen, dass Sie gebraucht werden und Profit erwirtschaften!" Dies bedeutet in zweifacher Hinsicht eine neue Qualität der Ökonomisierung von Arbeitskraft: Zum einen muss das Arbeitsvermögen effizienzorientiert entwickelt werden, zum anderen ist es kontinuierlich mit aufwendigem Selbst-Marketing anzubieten und zu verkaufen.

Selbst-Rationalisierung: Schließlich wird eine aktiv auf den Erwerb ausgerichtete, alle individuellen Ressourcen gezielt nutzende systematische Durchgestaltung des gesamten Lebenszusammenhangs erforderlich. Und auch hier gilt dann eine neue Devise: „Wir brauchen Sie voll und ganz und zu jeder Zeit - und dazu müssen Sie Ihr Leben voll im Griff haben!" Letztlich tun Arbeitskräfte damit nichts anderes als die Anbieter von anderen Waren, wenn diese die Herstellung und Vermarktung ihrer Produkte von einer eher unorganisierten Form in eine gezielte Koordination überführen: Gewissermaßen muss nun das eigene Leben als ,Betrieb` (so könnte man mit Marx und Weber sagen) organisiert werden.

Offen bleiben muss beim gegenwärtigen Forschungsstand die Frage nach der Reichweite dieser Thesen. In ausgeprägter
Form entsprechen dem Typus des Arbeitskraftunternehmers bisher vor allem selbständig Erwerbstätige mit hohen Qualifikationen in der Medienbranche, in Bildungs- und Beratungsberufen oder Kulturschaffende im weiteren Sinne. Im Bereich abhängiger Beschäftigung ist dieser Typus am ehesten dort zu finden, wo qualifizierte Arbeit mit flexibilisierter Auftragsbearbeitung verbunden ist, wie in vielen EDV-Bereichen. Unter weit weniger günstigen Bedingungen verläuft diese Entwicklung in Bereichen niedrig qualifizierter Dienstleistungsarbeit, wo sich moderne Formen des Tagelöhnertums abzeichnen.

Fragmentierung und Biographisierung von Erwerbsverläufen

Da sich die Entwicklung noch in einem Anfangsstadium befindet, können die folgenden Überlegungen nur erste Ansätze zum Wandel von Erwerbsverläufen benennen; sie stützen sich auf Ergebnisse (bisher 30 Intensivinterviews mit Erwerbstätigen aus verschiedenen Branchen) eines laufenden empirischen Forschungsprojekts (vgl. Voß/Pongratz 1999). Zu erwarten sind demnach eine neuartige Fragmentierung und eine verstärkte Biographisierung von Erwerbsverläufen.

Die These von der Fragmentierung besagt, dass die (bei Männern) bisher typischerweise durch Vollzeitbeschäftigung und relativ kontinuierlichen Aufstieg gekennzeichnete Erwerbsphase in Zukunft deutliche Brüche aufweisen und sich in mehrere Teilphasen mit unterschiedlichen Erwerbslagen aufgliedern wird. Der Begriff Patchwork-Biographie erscheint mir für diese Entwicklung nicht angemessen zu sein, da er eine bunte Vielfalt (,Fleckerlteppich`) relativ beliebiger Phasen von Erwerbsarbeit nahe legt und die Gestaltungsoffenheit überbetont. Mit der Fragmentierungsthese wird stattdessen betont, dass Erwerbsstrategien immer wieder in Sackgassen enden und aktiv neue Ansätze gesucht werden müssen.

Arbeitskraftunternehmer müssen die eigene Leistungsfähigkeit - in Konkurrenz zu anderen Arbeitskräften - immer wieder von neuem beweisen. Unsere empirischen Befunde deuten darauf hin, dass Erwerbstätige in verschiedenen Lebensphasen nicht in gleicher Weise bereit sind, sich auf solche Bedingungen einzulassen. Jüngere Erwerbstätige in beruflichen Orientierungsphasen akzeptieren eher erhöhte Leistungsanforderungen als Bewährungschance und nutzen die Flexibilisierung der Arbeit, um diverse Arbeits- und Erwerbsformen auszuprobieren. Sobald andere Lebensinteressen (z.B. an Familiengründung - oder auch schlicht an Regeneration) in den Vordergrund treten, steigt dagegen das Bedürfnis nach Planbarkeit und Stabilität der Erwerbsbedingungen deutlich.

Möglicherweise verstärken sich alte Ungleichheiten: Anbieter unentbehrlicher Fähigkeiten bekommen höhere Gestaltungsmöglichkeiten ihres Erwerbsverlaufs eingeräumt als Arbeitskräfte mit ,Allerwelts-Qualifikationen`. Insgesamt ist von einem deutlich größeren Spektrum unterschiedlicher Erwerbsformen und damit von einer erhöhten Vielfalt der Erwerbsverläufe auszugehen. Die Erwerbsarbeit bestimmt weiterhin die Struktur der Lebenswege, aber sie schafft weniger als bisher eine verlässliche und planbare ,Ordnung`. Erwerbsverläufe werden sich in Zukunft stärker als Sequenzen von Auf- und Abstiegen darstellen: Erfolg hat auf die Dauer nur, wer zeitweises Scheitern verkraftet.

Als Biographisierung bezeichnet Kohli (1994) den Anspruch „eigenständiger biographischer Orientierung" angesichts der abnehmenden institutionellen Verankerung von Erwerbsverläufen. Mit der Konstruktion einer biographischen Erzählung füllen Menschen ihren persönlichen Lebenslauf mit Sinn und gewinnen innere Stabilität - ungeachtet der Wechselfälle des Erwerbslebens. Mit dem Typus des Arbeitskraftunternehmers wird die Ausarbeitung einer unverwechselbaren Biographie nicht nur zum Erfordernis der Identitätsbildung, sondern auch zu einem strategischen Element der Vermarktung eigener Fähigkeiten: Wer seine bisherigen beruflichen Entscheidungen überzeugend begründen kann, erweckt Vertrauen bei Auftrag- und Arbeitgebern.

Mit der Fragmentierung der Erwerbsverläufe wird es wichtiger und zugleich schwieriger, die eigene Biographie als sinnvolles Ganzes erscheinen zu lassen. Denn auch unbeabsichtigte Brüche und Erfahrungen des Scheiterns müssen verarbeitet werden - und letztlich noch als nützliche Bausteine eines abwechslungsreichen Werdegangs deutbar sein. In Verbindung mit neuerlich belebten Leistungsidealen ist eine zunehmende Tendenz abzusehen, Erfolg und Misserfolg dem eigenen Handeln und nicht den gesellschaftlichen Bedingungen von Erwerbsarbeit zuzuschreiben. Fehlschläge werden dann häufig als persönliches Versagen gedeutet, während umgekehrt Erfolge auf glückliche Umstände zurückgeführt werden.

Folgerungen für die Erwachsenenbildung

Die Erwachsenenbildung ist in vielerlei Hinsicht von dieser Entwicklung betroffen. Zunächst macht sich die Fragmentierung von Erwerbsverläufen - in Verbindung mit Ansprüchen an lebenslanges Lernen - als Rahmenbedingung von Bildungsmaßnahmen bemerkbar: Die Bildungsmotive werden vielfältiger und bleiben auch in späteren Lebensphasen enger an Erfordernisse des Erwerbslebens gebunden. Die Frage, wozu jemand in einem bestimmten Lebensalter lernt, ist weniger denn je pauschal zu beantworten; damit gewinnt die Ermittlung und Berücksichtigung individueller Interessenlagen für die Gestaltung von Bildungsprozessen weiter an Bedeutung.

Die Biographisierung verweist zudem auf die Reflexion und Deutung des eigenen Lebensverlaufs als eine bisher wenig beachtete Bildungsaufgabe. Schulische und berufliche Ausbildung sind gemeinhin auf standardisiertes Wissen und auf normierte Berufsverläufe ausgerichtet; auf die unabsehbaren Wechselfälle des Erwerbslebens bereiten sie kaum vor. Der Erwachsenenbildung stellt sich verstärkt die Aufgabe, es Bildungsteilnehmer/innen zu ermöglichen, unbewältigte Erwerbserfahrungen aufzu
arbeiten, sie sinnvoll in ihren Lebenszusammenhang einzuordnen und Gestaltungsoptionen für die Zukunft zu entwickeln.

Besondere Bedeutung kommt dabei der Befähigung zur produktiven Verarbeitung von Erfahrungen des Scheiterns zu. Es gilt zu erkennen, welche eigenen Handlungen zu beruflichen Fehlschlägen beigetragen haben und welche sonstigen Umstände wirksam waren. Gegenüber der Tendenz zur Selbst-Zuschreibung von Misserfolg erwächst der Erwachsenenbildung wieder eine klassische Aufklärungsfunktion in der Aufdeckung der gesellschaftlichen Bedingungen individueller Fehlschläge. Die Erkenntnis gemeinsamer Erfahrungen des Scheiterns könnte sogar zum Ausgangspunkt für kollektive Strategien der Erwerbssicherung (bis hin zur politischen Aktion) werden.

In diesem Sinne sind didaktische Konzepte gefordert, die persönliches Erleben thematisieren und erfahrungsbezogenes Lernen möglich machen. Ein Beispiel für ein solches Bildungskonzept ist die fallorientierte berufspädagogische Fortbildung, die Müller, Mechler und Lipowsky (1997) zum Verstehen von Problemsituationen in der betrieblichen Ausbildung entwickelt haben. Deren Deutungspotenzial erfasst nicht nur das Handeln der Personen, sondern berücksichtigt systematisch auch betriebliche Bedingungen und relevante gesellschaftliche Prozesse.

Es liegt nahe, solche neuen Bildungsaufgaben in einem Berufsfeld zu erproben, das bereits in hohem Maße fragmentierte Erwerbsverläufe hervorbringt, nämlich im Feld der Erwachsenenbildung selbst. Die Erwerbsbedingungen in weiten Bereichen der Erwachsenenbildung lassen ahnen, was auf viele Erwerbstätige zukommt; mit der Reflexion ihrer eigenen Lebensverläufe können sich Erwachsenenbildner/innen auf den Wandel der Erwerbsarbeit und auf veränderte Bildungsbedürfnisse ihrer Klientel vorbereiten.

Literatur

Hitzler, R./Honer, A. (1994): Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung. In: Beck, U./Beck-Gernsheim, E. (Hg.): Riskante Freiheiten. Frankfurt/M., S. 307-315

Keupp, H. (1988): Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation. Sozialpsychologische Studien. Heidelberg

Kohli, M. (1985): Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 1, S. 1-29

Kohli, M. (1994): Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie. In: Beck/Beck-Gernsheim, a.a.O., S. 219-244

Müller, K./Mechler, M./Lipowsky, B. (1997): Verstehen und Handeln im betrieblichen Ausbildungsalltag. Fallorientierte berufspädagogische Fortbildung für betriebliches Ausbildungspersonal. Band 1: Ergebnisse. München: Bayer. Staatsmin. für Arbeit u.a.

Voß, G.G./Pongratz, H.J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 1, S. 131-158

Voß, G.G./Pongratz, H.J. (1999): Arbeiter und Angestellte als Arbeitskraftunternehmer? Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen. Forschungsantrag an die Hans-Böckler-Stiftung (unveröffentlicht)


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Dezember 2000

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