DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Lernen im geschaffenen Raum

Zum materiellen Verständnis des Begriffes „Lernarchitektur"

Jörg Knoll
Dr. Jörg Knoll ist Professor für Erwachsenenpädagogik an der Universität Leipzig.

Lernarchitektur läßt sich nicht nur definieren als Gestaltung medialer und virtueller Lernarrangements, sondern verweist auch auf die Wechselbeziehung zwischen Lernen und materiellem Raum. - Jörg Knoll nimmt diese Wechselbeziehung in den Blick und beschreibt Lernarchitektur als pädagogisches Handeln durch die bewußte Gestaltung von Lernräumen.

Abstract:
Learning architecture means not only building up and constructing new virtual platforms for learning but also - in an original sense - the effects of real house and room architecture on learning. The article focuses the interdependence between material surroundings, methodical conditions and pedagogical planning and acting. Learners react to signals the classroom sends out: „This is a place for communication", „This one looks like school" or maybe just „What kind of place is this?". Using architectural elements for creating a learning situation is a rewarding and may be an exciting experience for the teacher.

 

„Lernarchitektur" - der Begriff hat neben seiner aktuellen Funktion einen Eigensinn. Dieser erschließt sich, wenn man das Wort beim Wort nimmt in seiner alten Bedeutung: „Architektur" = „Baukunst", oder ausführlicher umschrieben: die Theorie und die Praxis, Räume und Gebäude zu schaffen und zu gestalten, und das Ergebnis solchen Handelns. „Lernarchitektur" läßt sich demnach auch verstehen als jene Baukunst, die dem Lernen dient oder dienen soll, indem sie hierfür Häuser entwirft und verwirklicht, Räume ausstattet, Plätze inszeniert. Also: Häuser, Räume, Plätze, um sich Wissen anzueignen, Fähigkeiten zu erweitern, die eigene Person weiter zu entwickeln, sich zu bilden. Plätze, Räume, Häuser für Begegnung und Gespräch, für Hören und Sehen, für Eigentätigkeit ebenso wie für gemeinschaftliches Tun. All das gibt es ja nach wie vor, und zwar nicht nur neben den medialen Lernwelten als Ort anders gerichteter und gefüllter Lehr-Lern-Arrangements, sondern in vielen Fällen auch als der architektonische Außenraum für das Lernen von und mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien.

Wechselbeziehung zwischen Lernen und Raum

Damit aber öffnet sich der Blick auf etwas, was für die Erwachsenenbildung ein nach wie vor aktuelles Thema und eine unabgegoltene Herausforderung darstellt, nämlich die Wechselbeziehung zwischen Lernen und materiell geschaffenem Raum. Sie wiederum ist Ausdruck einer grundlegenden Erfahrung: Wir wachsen heran und wir leben in gebauten Räumen. Ob wir arbeiten, einkaufen, uns unterhalten oder unterhalten lassen, ob wir warten und still sind oder mit anderen im Gespräch, ob wir essen oder schlafen oder eine Krankheit ausheilen oder etwas Schöpferisches tun oder eben lernen, immer (oder doch zu allermeist) umgeben uns Räume, die ihrerseits von Menschen entworfen und gestaltet worden sind.

Die Welt der Menschen - auch ihre Lernwelt - ist zu einem Gutteil geschaffener Raum. Zimmer und Haus. Wohnblock und Stadtteil. Stadt und Dorf. Straße und Platz. Schulgebäude und Bildungszentrum, Volkshochschule und Akademie, Klassenzimmer, Hörsaal, Seminarraum, Medienlabor, Cafeteria, Foyer, Eingangsbereich ...

Und so, wie uns überall - auch beim Lernen - geschaffener Raum umgibt, umgibt uns allenthalben Architektur. Sie ist eingestaltet in das alltägliche Leben vom ersten Atemzug an. Sie gehört so selbstverständlich zum Dasein, daß ihre Wirkung fast nur noch in jenen besonderen Augenblicken ins Bewußtsein tritt, wenn uns ein Raum oder ein Gebäude anrührt, staunen macht oder uns abschreckt, gar bedroht und aggressiv werden läßt; wenn wir empfinden: „Hier läßt sich‘s lernen" oder eben: „... hier nicht". In alledem vollziehen sich Wechselwirkungen zwischen Mensch und gebautem Raum, zwischen innerem Erleben und äußeren Strukturen aus Material und Form.

Gestalteter Raum definiert Situationen

Das geschieht in der Erwachsenenbildung in vielen alltäglichen Szenarien. Sie erscheinen oft als belanglos, als Nebensache oder nicht veränderbar. Und doch können sie eine Situation grundlegend bestimmen und definieren, bevor ein erstes Wort gefallen ist. Etwa, wenn Erwachsene einen Kursraum betreten, der tagsüber als Klassenraum dient („... hier ist Schule"). Oder wenn die Stühle im Lehrgangsraum des Bildungszentrums alle nach vorn ausgerichtet stehen („... hier ist Unterricht"). Oder wenn im Seminarraum Tische gestapelt sind, womöglich mit den Beinen nach oben („... hier ist Möbellager"). Oder ... - wobei den Lesenden auch andere Bilder vors innere Auge treten mögen, die andere Reaktionen hervorrufen, z.B. „... hier geht es um Gespräch" oder „... hier gibt’s was zu gestalten" oder das überraschte „... was ist denn hier los?" als möglicher Beginn eines ungewohnten Lernweges.

Sicherlich sind manche materiellen Lernarchitekturen schwer veränderbar. Gebäude wurden umgewidmet. Räume müssen einerseits angemietet und dürfen andererseits nicht verändert werden. Gewohnheiten und Vorlieben der Lehrenden unterscheiden sich. Erfreulich ist immerhin, daß sich mit „neuen Lernformen", mit Gruppenarbeit und gestalterischen Arbeitsweisen auch ein Bewußtsein für die Bedeutung von Rahmenbedingungen wie Räumen, Raumgestaltung, Einrichtung usw. zu entwickeln begann - sozusagen „Übersetzungen" pädagogischer Leitvorstellungen in (innen-)architektonisches Handeln, um es anspruchsvoll zu formulieren. Wenn die Welt der Dinge im Raum vergegenwärtigt und ermöglicht, „worum es geht", spart sich der oder die pädagogisch Handelnde so manche „Anweisung" und Erläuterung. Deshalb lohnt es sich, immer neu die Herausforderung aufzunehmen, die von einem materiellen Verständnis des Begriffes „Lernarchitektur" ausgeht. Sie lautet: Den umgebenden Raum und die Dinge so schaffen und gestalten, daß das Lernen der Menschen gefördert wird.

Die gegenständlich-materielle Lernumwelt ernstnehmen und sorgsam gestalten

Dies bedeutet zweierlei:

- Wenn Räume neu errichtet werden, z.B. bei Sanierungen oder Umbauten (und erst recht bei Neubauten), oder wenn Mobiliar und Ausstattung neu beschafft werden, dann von vornherein das Lerngeschehen in seinen unterschiedlichen Formen und Möglichkeiten einbeziehen und die architektonische Planung darauf ausrichten, wie es gefördert werden kann. Diese Herausforderung betrifft Personen mit Leitungsaufgaben in der betroffenen Einrichtung und Personen mit politischer Verantwortung im jeweils zuständigen Umfeld (beispielsweise das Hochbaureferat einer Kommune); sie verlangt ein Verständnis vom Lern- und Bildungsgeschehen, das die Lernumgebung in ihrer Wirkungsmöglichkeit ernst nimmt und sie dementsprechend als eine pädagogisch bedeutsame Gestaltungsaufgabe versteht und verwirklicht. In der Konsequenz bedeutet dies auch frühzeitige Information und Beteiligung gerade der pädagogisch Tätigen in möglichst großer fachlicher und konzeptioneller Breite.

- Wenn Räume vorhanden und zu nutzen sind, die konkreten Gegebenheiten (Tische, Stühle, Wände, Lichtquellen ...) als gewichtige Wirkfaktoren wahrnehmen, einbeziehen und in einer Weise gestalten, die für die einzelne Lehr-Lern-Situation (die Kurseinheit, den Seminartag) spezifisch förderlich ist. Diese Herausforderung betrifft die pädagogisch Tätigen und zielt ab auf ein Selbstverständnis, das neben der sachgerechten Erschließung des Inhalts und der angemessenen Methodenwahl auch die zielgeleitete, sorgsame Gestaltung der gegenständlich-materiellen Lernumwelt als professionelle Aufgabe annimmt. In der Konsequenz bedeutet das z.B., die Orte des pädagogischen Handelns vorher in Augenschein zu nehmen; bestimmte Planungen (etwa einer Eingangsphase) im vorgesehenen Veranstaltungsraum vorzunehmen, weil aus dem Raumerleben heraus wirklich stimmige methodische Einfälle erwachsen können; bei der Durchführung Zeit einzuplanen, um z.B. rechtzeitig vor Beginn einen Raum umzugestalten; möglicherweise Absprachen zu treffen mit Kolleginnen und Kollegen oder Teilnehmenden.

Pädagogisches Handeln mit Hilfe und durch die Gestaltung von materiellem Raum: ein lohnendes, ja sogar aufregendes Verständnis von „Lernarchitektur".