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Neue Lernformen – von der Wissensvermittlung zur Lernberatung
Rosemarie Klein

 

Aufbau:

1. Vor welchen Lernanforderungen stehen die Individuen?

2. Neue Lern-/Lehrformen: Ergebnisse einer aktuellen Analyse von praktisch erprobten Lern- und Weiterbildungsberatungskonzepten

3. Konsequenzen und offene Fragen.

Vor welchen Lernanforderungen stehen die Individuen?

Das gesellschaftliche Leitmotiv des Lebenslangen Lernens – das in Wirklichkeit eher berufslebenslanges Lernen meint -, die allseits postulierte Notwendigkeit, ständig weiterzulernen, entfaltet eine Sickerwirkung in den Köpfen der Subjekte. Weiterbildung erscheint zunehmend nicht mehr als etwas, was man betreibt, wenn Bedarfe offenkundig werden, Lernen entwickelt sich immer mehr zur Bringschuld, sie wird zum Ausdruck der Bereitschaft, permanent Leistung zu bringen und ‚auf dem Stand’ zu sein. Und dies relativ unabhängig davon, ob konkrete Lernbedarfe aktuell gegeben sind oder nicht. Hier ist das Individuum gezwungen eine Paradoxie auszuhalten. Während einerseits postuliert wird, dass ein Lernen auf Vorrat angesichts der zunehmenden Verfallszeiten (beruflichen) Wissens sinnlos sei, wird andererseits Investition in Lernen und Weiterbildung gefordert. Wie lange das Gelernte trägt, ob sich die Investition in Bildung lohnt, was zu lernen wichtig sei, was man besser verlernen sollte, all diese Fragen müssen zunehmend vom Individuum selbst beantwortet werden. Die Lernkontexte sind damit durch Unsicherheiten gekennzeichnet.

Sind nun die Antworten scheinbar oder tatsächlich gefunden, wird es zur Aufgabe des Individuums, sein Lernen möglichst selbst zu organisieren und optimalerweise auch noch selbst zu steuern. Die Fähigkeit zu Selbstorganisation und Selbststeuerung im Lernen kann dabei nicht vorausgesetzt werden. Wenn sie sozusagen Teil der menschlichen Natur wäre, würde sie uns bei der Verfasstheit unseres Schulsystems spätestens in der Schule wieder abtrainiert. Diese Lernkontexte machen u.a. deutlich: Das Individuum braucht Lernkompetenz als Fähigkeit zum erfolgreichen Lernhandeln.

Was dies umfasst, will ich jetzt nur schlaglichtartig ansprechen; (dazu habe ich für unsere anschließende Tischdiskussion einiges mitgebracht):

o Lernkompetenz umfasst Selbststeuerungskompetenz (Fähigkeit eigene Lern-/wissenserwerbsprozesse selbst zu steuern), Kooperationskompetenz (fähigkeit beim Lernen/wissenserwerb mit anderen zusammenzuarbeiten), Medienkompetenz (Fähigkeit zum Umgang mit und kritischen Bewerten von (neuen) Medien).

o Anschlussfähigkeit: Für erfolgreiche Lernhandlungen braucht der/die Lernende außerdem ein Vorwissen, an das angeknüpft werden kann und Lernmotivation, d.h. Interessen, Ziele, eine Lernperspektive.

o Planungs- und Verarbeitungsfähigkeit: Zum selbstgesteuerten Lernen muss der/die Lernende die Fähigkeit besitzen (oder erwerben), das eigene Lernen planen zu können, für das Lernen relevante Informationen zu Wissen verarbeiten können, das eigene Lernen überwachen und steuern können, die Lernmotivation aufrecht erhalten können.

o Lernstrategien: Dazu braucht es wiederum Strategien, wie z.B. Lernziele zu formulieren, Lernziele in Zwischenziele zu unterteilen, Lernzeiten realistisch zu planen, Prioritäten zu setzen, Arbeitsformen/Lernformen zu planen usf.

o Relevierungskompetenz: Um Informationen in Wissen zu verarbeiten braucht das Individuum auch Strategien wie: Neues Wissen mit Vorwissen verknüpfen, Neues Wissen auf das Wesentliche zu konzentrieren, d.h. zu reduzieren.

o Evaluationskompetenz: Um das eigene Lernen zu überwachen braucht es Strategien wie die Überprüfung der Lernziele, z. B. durch die Wieder- oder auch Weitergabe des Gelernten an Dritte.

o Auch zum Aufrechterhalten der Lernmotivation braucht es Strategien wie z.B. die eigene Aufmerksamkeit im Lernen zu kontrollieren, Pausenregelungen zu finden, die eigenen Gefühle zu kontrollieren, selbstwirkende Belohnungsmuster zu finden und m.E. auch die Fähigkeit zur Selbstüberlistung als Umgang mit dem inneren Schweinehund.

o Lernkompetenz als Fähigkeit zum erfolgreichen Lernhandeln umfasst auch das breite Feld der Kooperationskompetenz, denn Lernen ist in vielen Kontexten ein interaktiver Prozess. (nicht nur dort, wo er in organisierter Form der Weiterbildung in der Gruppe angesiedelt ist, sondern auch dort, wo Lernen in informellen Zusammenhängen passiert. Hier braucht es – ohne dies nun näher entfalten zu können – kommunikativer Strategien, Strategien zur Interaktion, ein Bewusstsein über die eigenen prosozialen Verhaltensweisen und dahinter stehenden Normen und Werthaltung, braucht es Strategien des Konfliktmanagements, d.h. auch des Umgangs mit Problemen im Zusammen-Lernen.)

Ich will es an der Stelle damit belassen und hoffe, mit dem bei weitem nicht zuende differenzierten Katalog dessen, was hinter ‚Selbstlernen’ steht deutlich gemacht zu haben, dass die komplexen Lernkontexte und die zur Bewältigung erforderliche Lernkompetenz eines genauen Blicks bedarf und es auch nicht verwundert, dass wir als Profession hier mit unserem professionellen Wissen und Handeln zumindest noch für eine längere Zeit gefragt sind.

Neue Lern-/Lehrformen

Ich komme nun zu den neuen Lern-/Lehrformen, die ich am Beispiel einer Analyse von gelebten Beratungskonzepten entfalten möchte. ‚Beratung’ ist derzeit die Antwort der Erwachsenenbildung auf die Anforderungen des lebenslangen und selbstorganisierten/selbstgesteuerten Lernens. Die Analyse von Beratungskonzepten habe ich als Studie im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft berufliche Weiterbildungsforschung (ABWF e.V., Berlin) im Rahmen des bmbf-Pprojekteprogramms ‘Lernkultur Kompetenzentwicklung’ durchgeführt.

Auswahlkriterien

Wir haben 9 Konzeptionen ausgewählt, die Beratung zum und im Lernen als zentrale neue Lern-/Lehrform erprobt, d.h. umgesetzt haben. Es handelt sich um Beratungskonzepte für verschiedene Zielgruppen und sehr verschiedene Rahmenbedingungen, die von organisierter abschlussbezogener Weiterbildung über Outplacement-Beratung bis hin zu beratungsbasierten Selbstlernangeboten reichen.

Nun einen Blick in die konzeptionellen Gemeinsamkeiten:

1. Von der Teilnehmerorientierung zur Teilnehmerzentrierung

Den meisten Konzeptionen liegt das Leitprinzip der Teilnehmerorientierung zugrunde, das, genährt durch den Paradigmenwechsel vom Lehren zum Lernen sich zur Teilnehmerzentrierung entwickelt: Alles dreht sich um den/die Lernende/n. Man kann von einer neuen Suchbewegung sprechen, den alten Begriff der Teilnehmerorientierung mit neuem Leben zu füllen. In der Konsequenz ergeben sich Bildungsziele, die über eine berufliche, fachlich-funktionale Qualifizierung weit hinausgehen. Das Lernen mit Lebensperspektive zu verbinden, biographie- und kompetenzorientierten Prinzipien zu folgen sind Ausdruck einer stärkeren Ausrichtung auf eine Stärkung der Persönlichkeiten. Das ist im Feld der Erwachsenenbildung nicht neu, erhält jedoch eine eindeutig höhere Bewertung und wird offensiv vertreten.

2. Modularisierung der Bildungsinhalte

Fast alle Ansätze von Lernberatung integrieren sich in modulare Qualifizierungskonzepte, die es den Lernenden ermöglichen sollen, nach individuellen Bedarfen ihren Lernaufwand zielorientiert und effektiv dosieren zu können.

3. Selbstorganisation kann nicht gelehrt werden, sondern bedarf der Forderung und Förderung.

Alle Beratungsansätze integrieren die schrittweise Hinführung der Lernenden zu mehr Selbstorganisation im Lernen, erheben selbstorganisiertes Lernen zum Lerngegenstand. Selbstorganisiertes Lernen kann nicht gelehrt werden, sondern bedarf der Förderung und Forderung durch didaktische Arrangements. Es braucht also Möglichkeiten der Mitsprache und Mitentscheidung in allen Faktoren, die das Lernen steuern (Ziel, Inhalt, Methode, Ort, Zeit, Ergebnis) ermöglichen.

4. Die Teilung der Verantwortung bedarf neuer Instrumente der Verbindlichkeit.

Auffallend ist, dass fast alle Konzeptionen mit individuellen Bildungsplänen und Bildungsverträgen, sog. Lernkontrakten, arbeiten. Die Teilung von Verantwortung für den Lern-/Lehrprozess schafft neue strukturelle Elemente zur Herstellung von Verbindlichkeiten und Transparenz bezüglich des Lernprozesses. Individuelle Kontrakte und individuelle Bildungspläne, die i.d.R. prozesshaft angelegt sind, sind die neuen Instrumente.

5. Beraten steht vor Lehren.

Keine der Konzeptionen ersetzt durch Lernberatung das Lehren. Das Lehren als Vermittlungsform von Wissensbeständen des Lehrers an die Lernenden verändert sich aber zu Gunsten der Vermittlung von Wissen, um das Wissen erschließen zu können und zu Gunsten einer Unterstützung der Entscheidungsfindungen des Individuums zur Steuerung des eigenen Lernprozesses.

6. Hinter Lernberatung steht ein Verständnis von selbstorganisiertem Lernen in sozialen Kontexten.

Selbstorganisation im Lernen geht auf in sozialem Handeln, ist also geerdet in dem Selbstverständnis, dass Lernen auch ein sozialer Prozess ist. Selbstlernen braucht die Rückbindung an ein Lernen im sozialen Kontext, wenn es um die Förderung kommunikativer, interaktiver, kurz sozialer Kompetenzen geht, die ja zunehmend an Bedeutung gewinnen.

7. Die Bedeutung von Lernortbedingungen steigt.

Hervorgehoben wird die Bedeutung lernförderlicher Lernortbedingungen. Integrierte Lernorte, verstanden als Lernorte, die funktionsbezogen für verschiedene Lernaktivitäten stehen: Beratungsräume, Gruppenräume, Medienräume, Selbstlernzentren u.ä. lösen den klassischen Kursraum/Schulraum ab. Medienverfügbarkeit, d.h. regelmäßiger Zugang zu Lernmedien z.B. durch einen Lernquellenpool wird betont. Zu den Lernortbedingungen gehört auch eine ausreichende personelle und mediale Ausstattung und eine Erreichbarkeit über die üblichen Öffnungszeiten der Einrichtungen hinaus - und last but not least: ein Ansprechen aller Sinne. Ästhetik gewinnt an Bedeutung.

8. Diagnostische Verfahren, Methoden und Instrumente nehmen zu.

Im methodischen Bereich sticht die Zunahme von diagnostischen Methoden, Instrumenten und Verfahren ins Auge. Sie dienen der detaillierten Erfassung von Lernsituationen, Vorkenntnissen, Interessenlagen, Wünschen, Zielen, Erfolgskontrollen, Lebensperspektiven usf. Viele der gelebten Konzepte arbeiten gezielt mit Reflexionsangeboten als diagnostische Instrumente, die darauf abzielen, lebensbiographisch erworbene Kompetenzen, Qualifikationen ins Bewußtsein zu heben. Sie dienen der Stabilisierung bzw. Wiedergewinnung von Selbstvertrauen in die eigene Lernleistung.

Damit rücken auch die Fähigkeiten und Kompetenzen ins Blickfeld, die nicht in institutionalisierten Lernkontexten erworben werden. Das erweiterte Verständnis von Lernen, das auch informelles Lernen einbezieht, hat zu einer Neubewertung des Verhältnisses von formalem und informellem Lernen geführt und verdeutlicht – für manche Pädagogen/innen irritierend -, in welch hohem Maß Menschen informell lernen.

9. Einsatz lernprozessbegleitender Instrumente

Zunehmend eingesetzt werden auch lernprozessbegleitende Instrumente wie Lerntagebücher, Entwicklungspläne, die reflexiv angelegt sind und ebenso persönliches wie gemeinsames Steuerungs- und Kontrollinstrument sind. Wesentliches Merkmal: es handelt sich um pädagogische bzw. andragogische Diagnoseverfahren, die in hohem Maße selbstreflexiv angelegt sind. Es handelt sich nicht um Pseudotherapie/keine Grenzüberschreitung.

10. Methodenvielfalt wird groß geschrieben.

Eine hohe Bedeutung erfahren dabei reflexiv-orientierte Methoden, kommunikative und kreativitätsfördernde Methoden, Methoden zur Förderung des Planungsverhaltens und nicht zuletzt Methoden zum Selbstlernmanagement.

 

Konsequenzen/offene Fragen/Problemfelder

  1. In abschlussbezogenen Kursen ist gegenüber Geldgebern, Vorgesetzten, aber auch Teilnehmenden immer noch viel Überzeugungsarbeit nötig. Dass ein höheres Maß an Selbststeuerung und –organisation Voraussetzung ist für die Befähigung und die Lust zum lebensbegleitenden Lernen, wird zwar allgemein eingesehen, dass damit aber auch ein Verzicht auf geschlossene Curricula und ein Vorschuss an Vertrauen in die Teilnehmenden notwendig ist und klare Weg-Ziel-Definitionen, die Lernen im Gleichschritt bedeuten würden, nicht mehr möglich sind, ist noch lange nicht in den Köpfen. Insbesondere viele Arbeitsämter, aber auch Vorgesetzte, denken noch zu sehr in fest kalkulierten, exakt geplanten und damit genau kontrollierbaren Maßnahmekategorien.

  2. Selbstorganisiertes Lernen als didaktischer Ansatz kann nicht verordnet werden. Das pädagogische Personal muss Raum und Zeit haben, sich mit den damit verbundenen veränderten Rollenanforderungen auseinanderzusetzen. Das ist angesichts knapper finanzieller Ressourcen immer schwieriger, bleibt aber Grundvoraussetzung für die Implementierung neuer Konzepte.

  3. Die Hoffnung, SOL böte Einsparpotenziale beim päd. Personal ist – zumindest mittelfristig – nicht tragfähig. Gerade die Hinführung zu SOL, die ja auch einen hohen Grad an Individualisierung bedeutet, ist aufwendig und braucht eher mehr Personal als klassische Unterrichts- und Unterweisungsformen. In den von uns untersuchten Konzepten war die Umsetzung bei den meisten nur dadurch möglich, dass sich das pädagogische Personal über die bezahlte Arbeitszeit hinaus engagiert hat. Ihr Lohn dafür war immaterieller Natur und lag in erster Linie in einer höheren Arbeitszufriedenheit.

  4. Die Etablierung der vorgestellten neuen Konzepte blieb nie ohne Rückwirkungen auf die Gesamteinrichtung. Einrichtungen, in denen die Leitungsebene kein Zutrauen in die päd. Verantwortlichen entwickelt, keine Delegation von Verantwortung – und damit Macht – praktiziert und in der Fehler und Irrtümer nicht als notwendige Begleiter des prozesses akzeptiert sondern negativ sanktioniert werden, werden neue Wege nicht beschreiten können, sondern fahren weiter auf alten Gleisen, die irgendwann ins endgültige Abseits führen.

  5. Ein Defizit sollte nicht unerwähnt bleiben: eine systematische Evaluation und eine Untersuchung der Langfristigkeit der Effekte dieser neuen Konzeptionen steht noch weitgehend aus, die empirische Basis für die Verifizierung oder auch Falsifizierung der Ausgangsthesen ist noch zu dünn.