Laut einer Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom Juni 2016 verfügen 70 Mio. Europäerinnen und Europäer über unzureichende Lese- und Schreibkompetenzen; noch mehr Menschen werden Defizite beim Rechnen und bei den digitalen Kompetenzen bescheinigt (vgl. European Commission 2016). Daraus leitet die Kommission eine „neue umfassende europäische Kompetenzagenda“ ab, die in den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden soll. Dies ist nur eine der jüngsten Wortmeldungen in der Debatte um Grundkompetenzen, die mit den großen Studien zur Kompetenzerfassung wie dem International Adult Literacy Survey (IALS) (vgl. OECD 2000) und Adult Literacy and Lifeskills Survey (ALLS) (vgl. OECD 2005) in den späten 1990er Jahren ihren Anfang genommen und in Deutschland mit der PIAAC- und der leo. – Level-One Studie eine neue Dynamik erhalten haben.

Die Veröffentlichung der ersten Ergebnisse des Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC) der OECD im Jahr 2013 (vgl. OECD 2013), welches die Grundkompetenzen Erwachsener in den Bereichen Lesen, Alltagsmathematik und technologiebasierte Problemlösungskompetenz in verschiedenen Ländern miteinander verglichen hat, zeigte, dass ein relativ großer Prozentsatz von Personen in hochentwickelten Industriegesellschaften nicht in der Lage ist, die unterste Stufe von Grundkompetenzen, wie in PIAAC gemessen, zu erreichen, und damit nicht in ausreichendem Maße über basale Kompetenzen zur Alltagsbewältigung verfügt.

In Deutschland wurde die Debatte um Grundkompetenzen auch durch die nationale leo. – Level-One Studie angeregt, wonach rund 7,5 Mio. Menschen in der erwerbsfähigen Bevölkerung als funktionale Analphabeten gelten (vgl. Grotlüschen und Riekmann 2012). Als Konsequenz aus den Befunden aus den Large-Scale-Assessments hat die bildungspolitische Debatte um die Sicherung eines Mindestmaßes an Bildung und Kompetenzen für alle Menschen in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.

Die 2015 von Bund und Ländern ausgerufene „Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ ist ein eindeutiger Beleg dafür. Dabei hatte sich bereits im Rahmen der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen (2003–2012) in Deutschland ein Bündnis für Alphabetisierung und Grundbildung konstituiert, welches aus verschiedenen Akteuren aus Bund, Ländern, Weiterbildungsorganisationen, Sozialpartnern und der Bundesagentur für Arbeit bestand und eine Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener entwickelte.

Während Alphabetisierung als Begriff jedoch in den Hintergrund rückt, scheint das Konzept der Grundbildung offener und international anschlussfähiger zu sein (vgl. Tröster und Schrader 2016). Denn Grundbildung wird als Querschnittsthema betrachtet, welches „sich nicht in Bezug auf feststehende Inhalte und Kompetenzen, sondern mit Blick auf die Erreichung bestimmter Ziele“ bestimmen lässt (Euringer 2016, S. 36). Grundbildung im Sinne der Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und Beschäftigungsfähigkeit lässt sich als Aufgabe eines Wohlfahrtsstaates interpretieren, der auf die ökonomische und soziale Wohlfahrt seiner Bürger abzielt (vgl. Knauber und Ioannidou 2016). Unabhängig davon, ob Bildung als soziales Recht (vgl. Marshall 1964) oder als Humankapital (vgl. Becker 1993) konzipiert und als Absicherung gegen den sozialen Abstieg betrachtet wird, ist Bildung an Leistungen (materielle und immaterielle) des Sozialstaates gekoppelt. Die steigenden Herausforderungen an den Staat und die angestrebte Transformation von einem fürsorgenden hin zu einem aktivierenden Sozialstaat tangieren folglich auch die Bildungspolitik.

Hinzu kommt, dass aufgrund der aktuellen, durch Flucht und Vertreibung forcierten Zuwanderung und der damit verbundenen Erwartung an eine gelungene Integration der Geflüchteten die oben beschriebenen Herausforderungen an Wissenschaft, Politik und Praxis der Weiterbildung zusätzlich zunehmen werden.

Vor diesem Hintergrund ist das aktuelle Heft der Zeitschrift für Weiterbildungsforschung dem Thema „Politiken der Grundbildung im internationalen Vergleich“ gewidmet. Die zahlreich eingegangenen Beiträge nehmen eine explizit international-vergleichende Perspektive ein und zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung der deutschen wie auch internationalen Scientific Community mit diesem Thema.

Der Beitrag von Carolin Knauber und Alexandra Ioannidou untersucht auf der Grundlage empirischer Daten aus dem Projekt EU-Alpha das Zusammenspiel von policy, polity und politics in der Grundbildungspolitik in den vier Ländern England, Niederlande, Österreich und der Türkei. Die Autorinnen analysieren, wie Politiken der Grundbildung auf der Ebene der Politikformulierung (policy) verstanden und wie sie, unter Berücksichtigung der institutionellen Regeln und Handlungszuständigkeiten des mehrebenenpolitischen Systems (polity), von jeweiligen Akteurskonstellationen in nationale Bildungspolitik umgesetzt werden (politics). Der Beitrag identifiziert unterschiedliche Governance-Strukturen in den hier betrachteten Ländern und beschreibt somit Unterschiede von der Politikformulierung bis hin zur Implementierung über die Fall-Länder hinweg.

Dass Prozesse der Bildungsbenachteiligung kumulativ über den Lebenslauf wirken, dass die Weiterbildung durch „weiche“ und „harte“ Selektionsmechanismen soziale Selektivität verstärkt und dass auch regionale Kontexte von Bedeutung für Bildungschancen sind, ist bereits mehrfach belegt worden (vgl. Tippelt und v. Hippel 2005; Bremer und Kleemann-Göhrig 2011; Schlögl et al. 2015; Martin et al. 2015). Wenig bekannt ist bislang aber u. a., wie genau Faktoren und Konstellationen auf der System- und Akteursebene die Beteiligung an Weiterbildung bzw. an Angeboten der Grundbildung beeinflussen. Genau das untersuchen Andreas Martin und Ina Rüber in ihrem Beitrag zur Weiterbildungsbeteiligung Geringqualifizierter mittels einer Mehrebenenanalyse. Mithilfe von Daten des European Labour Force Survey aus dem Jahr 2013 zeigen sie unter anderem, dass a) die Höhe öffentlicher Bildungsausgaben mit der individuellen Teilnahme an Weiterbildung positiv korreliert und b) bei höheren öffentlichen Bildungsausgaben die Benachteiligung Geringqualifizierter geringer ist.

Die Entscheidung für eine Bildungsbeteiligung hängt aber nicht nur von Makrostrukturen und vom Angebot ab. Sie wird überdies von individuellen Mikrofaktoren, ergo von der Nachfrageseite bestimmt. Das gilt insbesondere für die Gruppe der Bildungsbenachteiligten, die David Mallows und Jennifer Litster in ihrem Beitrag „Literacy as Supply and Demand“ betrachtet. Unter Heranziehung der Ergebnisse nationaler und internationaler Untersuchungen zur Literalität Erwachsener stellen sie die berechtigte Frage, warum diese großen Gruppen, denen mangelnde Kompetenzen zur Alltagsbewältigung bescheinigt werden, nicht für Grundbildungsangebote gewonnen werden können. Sie kommen unter anderem zu dem Schluss, dass der Bedarf bei vielen Erwachsenen unentdeckt bleibt, weil Grundkompetenzen im Arbeitsplatz oder im Alltag dieser Menschen gar nicht gefragt werden. Dies könnte zu einem Teufelskreis führen, da Kompetenzen, die nicht gefragt oder angewendet werden, an Bedeutung verlieren und verkümmern.

Anke Grotlüschen beschäftigt sich in ihrem Beitrag „Politische Grundbildung – Theoretische und empirische Annäherungen“ mit der Frage, ob eine auf arbeitsorientierte Grundbildung ausgerichtete Forschung und Politik nicht möglicherweise Felder ausschließt, die emanzipatorisches Potenzial für die Teilnehmenden haben, nämlich politische Grundbildung. Dabei greift sie auf politikwissenschaftliche und ökonomische Gegenwartsanalysen (Rosanvallon sowie Piketty) zurück, um die Relevanz politischer Grundbildung in einer zunehmend entsolidarisierten Gesellschaft aufzuzeigen. Auf der Basis von PIAAC-Daten geht sie der Frage nach, ob bei gering literalisierten Erwachsenen auch geringer ausgeprägte politische Wirksamkeitserwartungen sowie geringeres soziales Vertrauen zu erwarten sind und ob gering literalisierte Erwachsene sich weniger freiwillig engagieren als hoch literalisierte Gruppen.

Jean-Pierre Jeantheau beschreibt eine nationale Praxis in Frankreich, bei der die Verbindung zwischen Literalität und politischer Partizipation deutlich zu erkennen ist: den jährlich stattfindenden „Defence and Citizenship Day“ (JDC), der als „last step of the Parcours citoyen (Journey to citizenship)“ begriffen wird. Im Rahmen des JDC beteiligt sich fast eine gesamte Kohorte junger Franzosen an nationalen Literalitätstests (ca. 800.000 junge Menschen zwischen zumeist 17 und 19 Jahren). Der JDC wird vom Bildungsministerium in Frankreich sowie in den französischen Überseegebieten jährlich als ein diagnostisches Instrument eingesetzt, um diejenigen Personen zu identifizieren, die Lese- und Schreibschwierigkeiten haben. Ihnen wird im Anschluss, in Kooperation mit der staatlichen Verwaltung, lokalen Partnern und zivilgesellschaftlichen Akteuren, ein passendes Angebot zur Verbesserung dieser Kompetenzen erstellt.

In der Tradition der critical policy analysis befasst sich Ralf St. Clair in seinem Beitrag mit der Frage nach dem Potenzial, das internationale Large-Scale-Assessments besitzen, um evidenzbasierte Bildungsreformen zu unterstützen. Als Beispiel für seine Ausführungen nimmt er PIAAC und untersucht dessen Einfluss auf die Grundbildungspolitik in Kanada. Dabei stellt er fest, dass, trotz des langjährigen und intensiven Engagements Kanadas bei der Entwicklung von Large-Scale-Assessments zur Literalität Erwachsener (u. a. auch IALS und ALLS) der Einfluss der Studien auf der Ebene der Politikimplementierung eher gering bleibt. Dafür benennt er zwei Gründe: a) die Schwierigkeit, Ergebnisse aus Querschnittsstudien zur Literalität aus verschiedenen Zeitmessungen miteinander zu vergleichen, und b) die fehlende Bereitschaft des Staates, Organisationen zu unterstützen, die Grundbildungskonzepte implementieren sollen.

Die Konkretisierung dessen, was mit Begriffen wie „Literalität“ oder „Grundbildung“ jeweils gemeint ist, ist nicht nur eine theoretische oder eine empirische Frage, sondern wird immer auch durch heterogene Interessen der Akteure aus Politik und Praxis bestimmt. Das zeigt Caroline Euringer in ihrem Beitrag „Grundbildung im Spannungsfeld bildungspolitischer Ein- und Abgrenzungsinteressen“. Sie geht der Frage nach, wie der Grundbildungsbegriff vor dem Hintergrund der Interessen und Machtverhältnisse im Feld der öffentlichen Bildungsverwaltung der Länder ein- und abgegrenzt wird. Im Vordergrund stehen hier empirisch-qualitative Befunde, die neo-institutionalistisch bzw. im Anschluss an Bourdieus Verständnis des Staates als Feld der Macht interpretiert werden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Ein- und Abgrenzung von Grundbildung in Deutschland nicht nur durch allgemeine Ziele wie Teilhabe und Weiterlernen begründet wird, sondern dass vor allem formale Zuständigkeiten und finanzielle Ressourcen eine Rolle bei der möglichen Definition als Grundbildung spielen.

Schließlich vergleicht Anke Grotlüschen auf der Basis nationaler und internationaler Studien zur Weiterbildungsbeteiligung und zu Grundkompetenzen den Zusammenhang zwischen Weiterbildungsbeteiligung und Performanz in Grundkompetenzen (Lese- und Rechenfähigkeit), wie sie (auch) in PIAAC gemessen werden. Auf Grundlage von deskriptiven Statistiken beschreibt sie Beteiligungsstrukturen und Kompetenzlevel („level I and below versus level IV und above“) nach verschiedenen Lernformen (formal, non-formal) und verschiedenen Kontexten und stellt u. a. fest, dass der „Matthäus-Effekt“ auch in diesem Fall zum Ausdruck kommt.

Die Diskussion um Politiken der Grundbildung, wie von den Autorinnen und Autoren dieses Heftes der Zeitschrift für Weiterbildungsforschung angeregt werden, lässt erkennen, dass es um einen bildungspolitischen und erwachsenenpädagogischen höchst folgenreichen Diskurs handelt. Ländervergleichende Forschungsarbeiten dazu existieren bisher kaum, dafür gibt es einzelne Überblicksarbeiten und Berichte zu Grundbildungsprogrammen in verschiedenen Ländern und deren Effekte (vgl. Aschemann 2015; ELINET 2016a, 2016b, 2016c). Diese lassen deutliche Fortschritte in der Beschreibung der Phänomene erkennen, noch ist aber die Befundlage nicht ausreichend, um die international variierenden Defizite bei den Grundkompetenzen der erwachsenen Bevölkerung in den einzelnen Ländern „erklären“ zu können. Vor diesem Hintergrund wird eine wichtige Fragestellung weiterhin bleiben, wie einzelne Staaten Grundkompetenzen Erwachsener zu verbessern suchen und wie erfolgsversprechende Modelle aussehen können.

Copyright information

© The Author(s) 2016

Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

Kurzlink zu dieser Seite:
die-bonn.de/li/477